
Der Schweizer Föderalismus ist kein Labyrinth, sondern eine Landkarte der Macht, die Ihnen als Bürger direkte Einflussmöglichkeiten eröffnet.
- Die Macht wird gezielt aufgeteilt (Subsidiaritätsprinzip), um Entscheidungen so bürgernah wie möglich zu treffen.
- Kantone besitzen grosse Autonomie in zentralen Lebensbereichen wie Bildung, Gesundheit und bei einem Grossteil der Steuern.
- Ihre erste und wichtigste Anlaufstelle für die meisten Anliegen ist nicht Bern, sondern Ihre eigene Gemeindeverwaltung.
Empfehlung: Nutzen Sie diesen Artikel als Ihren persönlichen Kompass, um für jedes Anliegen die richtige Behörde zu finden und Ihre demokratischen Rechte wirksam wahrzunehmen.
Wer in der Schweiz lebt, stellt sich früher oder später die Frage: Warum ist das Schulsystem im Nachbarkanton anders? Weshalb variiert mein Steuersatz je nach Wohnort so stark? Und an wen wende ich mich eigentlich bei einem Problem mit meiner Rente? Diese Fragen führen direkt ins Herz des Schweizer Politiksystems, dessen Komplexität viele Bürger und Neuzugezogene zunächst verwirrt. Die übliche Antwort verweist auf die drei staatlichen Ebenen – Bund, Kantone und Gemeinden – und hinterlässt oft mehr Fragen als Antworten.
Doch diese auf den ersten Blick komplizierte Struktur ist kein historischer Zufall oder bürokratischer Selbstzweck. Sie ist das Fundament einer ganz spezifischen Form der Demokratie. Wenn man die Logik dahinter versteht, verwandelt sich die wahrgenommene Komplexität in ein mächtiges Werkzeug für den Einzelnen. Der Schlüssel liegt nicht darin, das System als undurchdringliches Dickicht zu sehen, sondern als eine durchdachte Entscheidungsarchitektur, die dem Bürger konkrete Hebel zur Mitgestaltung an die Hand gibt.
Dieser Artikel dient Ihnen als praktischer Leitfaden durch diese Architektur. Statt nur zu beschreiben, was Föderalismus ist, zeigen wir Ihnen, wie er im Alltag funktioniert. Wir entschlüsseln, wer wofür zuständig ist, wie Konflikte zwischen den Ebenen gelöst werden und – am wichtigsten – wie Sie als Bürger dieses System navigieren und für Ihre Anliegen nutzen können. Es geht darum, aus einem passiven Betrachter einen aktiven und informierten Teilnehmer der Schweizer Demokratie zu machen.
Der folgende Leitfaden bietet Ihnen einen klaren Überblick über die Funktionsweise und die praktischen Auswirkungen des Schweizer Föderalismus. Jeder Abschnitt beleuchtet einen spezifischen Aspekt, von der historischen Logik bis hin zur konkreten Anlaufstelle für Ihre alltäglichen Anliegen.
Inhaltsverzeichnis: Der Schweizer Föderalismus im Detail
- Warum hat die Schweiz 26 Kantone mit eigenen Regierungen statt einer zentralen Macht?
- Bildung, Gesundheit, Steuern: Wer entscheidet worüber in der föderalen Schweiz?
- Bundesgesetz oder Kantonsrecht: Welches gilt bei widersprüchlichen Regelungen?
- Der Irrtum, der 60% der Beschwerden an die falsche Behörde schickt
- Vom Dorfplatz nach Bern: Welche Behördenebene in welchem Fall zuerst kontaktieren?
- Neutrale Guten Dienste: Wie vermittelt die Schweiz konkret in internationalen Konflikten?
- Sprachgraben überwinden: Wie funktioniert Verständigung zwischen den Regionen konkret?
- Schweizer Neutralität: Wie bleibt sie in einer globalisierten Welt mit wachsenden Konflikten relevant?
Warum hat die Schweiz 26 Kantone mit eigenen Regierungen statt einer zentralen Macht?
Die Existenz von 26 souveränen Kantonen ist kein administratives Relikt, sondern das Ergebnis einer bewussten historischen Entscheidung für Autonomie und gegen Zentralismus. Anders als viele Nationalstaaten, die aus einer zentralen Macht heraus entstanden sind, ist die Schweiz von unten nach oben gewachsen: aus einem Bündnis unabhängiger Kleinstaaten (Orte), die ihre Eigenständigkeit um jeden Preis wahren wollten. Dieses Grundprinzip der Bürgernähe und Selbstbestimmung prägt das Land bis heute. Es geht darum, die eigene Identität, Kultur und Sprache zu bewahren.
Dietmar Braun, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Lausanne, fasst diesen fundamentalen Unterschied prägnant zusammen. Während in Deutschland die Länder eine Strategie der Kontrolle und Teilhabe an bundespolitischen Entscheidungen wählten, entschieden sich die Schweizer Kantone für einen anderen Weg:
wählten [die Kantone] die Autonomie und Nicht-Zentralisierung zur Bewahrung ihrer Identität, während die Länder der Bundesrepublik die Strategie der Kontrolle und Teilhabe an bundespolitischen Entscheidungen voranstellten.
– Dietmar Braun, Professor für Politikwissenschaft, Universität Lausanne
Diese tiefe Verankerung der föderalen Idee in der Schweizer Mentalität ist keine blosse Behauptung. Eine internationale Studie von 2021 zeigt, dass die Werte einer föderalen Verfassung, also das Vertrauen in dezentrale Strukturen, in der Schweiz weltweit am stärksten ausgeprägt sind. Der Föderalismus ist also nicht nur eine Staatsform, sondern ein zentraler Pfeiler der nationalen Identität, der die Vielfalt des Landes als Stärke begreift und schützt.
Bildung, Gesundheit, Steuern: Wer entscheidet worüber in der föderalen Schweiz?
Die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden folgt einem klaren Prinzip: dem Subsidiaritätsprinzip. Das bedeutet, eine Aufgabe wird immer von der kleinstmöglichen politischen Einheit übernommen. Nur was die Gemeinden nicht leisten können, fällt an die Kantone, und nur was die Kantone nicht regeln können oder was eine einheitliche nationale Lösung erfordert, wird zur Aufgabe des Bundes. Dies erklärt, warum viele der für den Bürger wichtigsten Bereiche kantonale oder kommunale Angelegenheiten sind.
Im Bildungsbereich zeigt sich dies besonders deutlich. Es gibt kein nationales Bildungsministerium; die Kantone sind für die Volksschulen, Gymnasien und oft auch für die Fachhochschulen zuständig. Die kantonale Bildungshoheit zeigt sich auch in den Zahlen: Von den gesamten Bildungsausgaben in Höhe von 41,34 Milliarden Franken im Jahr 2021 entfielen allein 25,2 Milliarden auf die Kantone. Ähnlich sieht es im Gesundheitswesen aus. Die Kantone sind für die Spitalplanung und die allgemeine Gesundheitsversorgung zuständig. Das führt dazu, dass man, wie im folgenden Fallbeispiel beschrieben, von 26 unterschiedlichen Systemen sprechen kann.
Fallbeispiel: 26 verschiedene Gesundheitssysteme
Die Kantone sind für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung verantwortlich und tragen laut der Bundeszentrale für politische Bildung mehr als 55 Prozent der staatlichen Gesundheitsausgaben. Da jeder Kanton eigene Schwerpunkte in der Gesundheitsversorgung setzt, beispielsweise bei der Spitaldichte oder der Förderung präventiver Massnahmen, wird oft zu Recht davon gesprochen, dass es in der Schweiz 26 unterschiedliche Gesundheitssysteme gibt. Dies ermöglicht massgeschneiderte Lösungen, führt aber auch zu Unterschieden bei den Krankenkassenprämien.
Ein weiteres zentrales Feld ist der kantonale Steuerwettbewerb. Zwar gibt es eine direkte Bundessteuer, doch den grössten Teil der Einkommens- und Vermögenssteuern erheben die Kantone und Gemeinden selbst. Dies führt zu einem Wettbewerb um gute Steuerzahler, der die Kantone zu einer effizienten Verwaltung anhält, aber auch zu grossen Unterschieden in der Steuerbelastung führt.

Diese Vielfalt ist kein Systemfehler, sondern ein gewolltes Merkmal. Sie ermöglicht es den Kantonen, auf die spezifischen Bedürfnisse und Wünsche ihrer Bevölkerung einzugehen. Der nationale Finanzausgleich sorgt dabei dafür, dass finanzstärkere Kantone die finanzschwächeren unterstützen, um die grössten Ungleichheiten abzufedern.
Bundesgesetz oder Kantonsrecht: Welches gilt bei widersprüchlichen Regelungen?
In einem föderalen System, in dem 27 verschiedene Gesetzgeber (1 Bund, 26 Kantone) tätig sind, sind Kompetenzkonflikte und widersprüchliche Regelungen unvermeidlich. Für solche Fälle gibt es eine klare und unmissverständliche Hierarchie der Gesetze. Das Prinzip « Bundesrecht bricht kantonales Recht » (Art. 49 Abs. 1 der Bundesverfassung) ist der zentrale Pfeiler der Schweizer Rechtsordnung. Dies stellt sicher, dass in Bereichen, in denen der Bund gesetzgeberisch tätig geworden ist, eine einheitliche Regelung für die ganze Schweiz gilt.
Wie das offizielle Schweizer Verwaltungsportal ch.ch erklärt, steht die Bundesverfassung über allen anderen Schweizer Erlassen. Sie hat somit Vorrang vor allen Gesetzen und Verordnungen des Bundes, der Kantone und der Gemeinden. Ein kantonales Gesetz, das der Bundesverfassung widerspricht, ist nicht anwendbar. Beispielsweise kann ein Kanton das Mindestalter für den Führerausweis nicht eigenmächtig auf 17 Jahre senken, da dies durch Bundesrecht geregelt ist. Die Kantone dürfen nur dort eigene Gesetze erlassen, wo der Bund keine oder keine abschliessende Regelung getroffen hat.
Allerdings birgt das Schweizer System eine bemerkenswerte Besonderheit, die es von vielen anderen Rechtsstaaten unterscheidet und die enge Verknüpfung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterstreicht.
Fallbeispiel: Das Paradox der Verfassungsgerichtsbarkeit
Im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland oder den USA kann in der Schweiz die Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen nicht durch ein Gericht überprüft werden. Das Bundesgericht, die höchste juristische Instanz, kann ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz nicht aufheben, selbst wenn es gegen die Verfassung verstösst. Der Grundgedanke dahinter ist, dass der demokratisch legitimierte Wille des Parlaments (und potenziell des Volkes bei einem Referendum) über der Entscheidung von nicht gewählten Richtern steht. Diese einzigartige Balance zeigt, wie stark der Föderalismus vom Vertrauen in die demokratischen Prozesse und nicht allein von juristischer Kontrolle geprägt ist.
Diese Struktur bedeutet für den Bürger, dass er sich auf die Gültigkeit von Bundesgesetzen im ganzen Land verlassen kann, während er gleichzeitig weiss, dass in vielen Alltagsbereichen kantonale Regelungen gelten, die nur durch das übergeordnete Bundesrecht begrenzt sind. Die Hierarchie der Normen schafft so Klarheit in einem System der Vielfalt.
Der Irrtum, der 60% der Beschwerden an die falsche Behörde schickt
Der Titel ist provokativ, doch er verweist auf ein reales und weit verbreitetes Phänomen: die Herausforderung, im föderalen Gefüge die richtige Anlaufstelle zu finden. Zwar gibt es keine offizielle Statistik über « falsch adressierte Beschwerden », doch die Erfahrung vieler Behörden zeigt, dass ein erheblicher Teil der Bürgeranfragen zunächst an die falsche Ebene gerichtet wird. Man beschwert sich beim Bund über eine kantonale Steuerrechnung oder bei der Gemeinde über eine Entscheidung der nationalen Post. Diese « föderale Reibung » führt zu Frustration, Verzögerungen und dem Gefühl, von Pontius zu Pilatus geschickt zu werden.
Das Problem liegt nicht an der Unfähigkeit der Bürger, sondern an der komplexen, überlappenden Natur der Zuständigkeiten. Um dieses Labyrinth zu navigieren, braucht es eine Art Zuständigkeits-Kompass – ein mentales Modell, das hilft, die richtige Richtung einzuschlagen. Anstatt wahllos eine Behörde zu kontaktieren, ist der erste Schritt immer die Frage: « Welche Ebene ist für mein spezifisches Problem am wahrscheinlichsten verantwortlich? » In den meisten Fällen ist die Antwort einfacher als gedacht: die Ebene, die dem Bürger am nächsten ist.

Die visuelle Metapher des Wegweisers verdeutlicht die Situation vieler Bürger: Man steht an einer Kreuzung und muss den richtigen Pfad wählen. Der moderne Glasgang (Bund), der traditionelle Steinbau (Kanton) und der rustikale Holzkorridor (Gemeinde) repräsentieren die unterschiedlichen Charaktere und Zuständigkeiten der Ebenen. Die Unsicherheit, welchen Weg man einschlagen soll, ist ein alltägliches Erlebnis im Schweizer Föderalismus. Ziel dieses Artikels ist es, Ihnen die nötige Orientierung zu geben, um zielgerichtet handeln zu können.
Der Schlüssel zur Vermeidung von Irrwegen liegt darin, das Subsidiaritätsprinzip nicht nur als theoretisches Konzept, sondern als praktische Handlungsanweisung zu verstehen. Bevor man sich an eine höhere Instanz wendet, sollte man immer prüfen, ob das Anliegen nicht in den Kompetenzbereich der Gemeinde oder des Kantons fällt. Dies spart nicht nur Zeit und Nerven, sondern stärkt auch die bürgernahen Strukturen, die das Herz des Föderalismus ausmachen.
Vom Dorfplatz nach Bern: Welche Behördenebene in welchem Fall zuerst kontaktieren?
Nachdem die Prinzipien der Kompetenzverteilung klar sind, stellt sich die praktische Frage: An wen wende ich mich konkret? Die folgende Matrix dient als Ihr persönlicher Zuständigkeits-Kompass für einige der häufigsten Alltagsanliegen. Sie zeigt, welche Behörde typischerweise die erste Anlaufstelle ist und welche Ebenen letztendlich für die Gesetzgebung und den Vollzug zuständig sind. Die goldene Regel lautet fast immer: Beginnen Sie lokal bei Ihrer Gemeinde.
| Anliegen | Erste Anlaufstelle | Zuständige Ebene |
|---|---|---|
| Unternehmensgründung | Gemeindeverwaltung | Gemeinde & Kanton |
| Rentenprobleme | Kantonale AHV-Stelle | Bund (Gesetz) / Kanton (Vollzug) |
| Schulprobleme | Schulleitung/Gemeinde | Primär Kanton |
| Steuerfragen | Gemeindeverwaltung | Alle drei Ebenen |
| Baugesuche | Gemeinde-Bauamt | Gemeinde (mit kant. Richtlinien) |
Diese Übersicht, basierend auf Informationen von Institutionen wie dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), macht deutlich, dass der Weg nach Bern nur selten der erste Schritt ist. Selbst bei national geregelten Themen wie der AHV-Rente sind die kantonalen Ausgleichskassen für den Vollzug und als Ansprechpartner zuständig. Diese dezentrale Organisation ist kein Umweg, sondern ein bewusster Demokratie-Hebel, der die Verwaltung bürgernah und zugänglich hält.
Ihr Aktionsplan: Den richtigen Ansprechpartner finden
- Anliegen präzisieren: Definieren Sie Ihr Problem so klar wie möglich. Geht es um eine Gebühr, eine Bewilligung, eine Dienstleistung oder eine rechtliche Frage?
- Zuständigkeit vermuten: Nutzen Sie die obige Tabelle und das Subsidiaritätsprinzip. Handelt es sich um ein lokales (Bau, Schule), kantonales (Gesundheit, höhere Bildung) oder nationales (Militär, Zoll) Thema?
- Lokale Ebene zuerst kontaktieren: Im Zweifelsfall ist die Gemeindeverwaltung immer die beste erste Anlaufstelle. Die Mitarbeitenden dort können Ihr Anliegen oft direkt bearbeiten oder Sie an die exakt richtige kantonale oder eidgenössische Stelle weiterverweisen.
- Kantonale Ebene für übergeordnete Fragen: Wenden Sie sich an die kantonalen Departemente für Themen, die über die Gemeinde hinausgehen, wie Spitalplanung, Gymnasien oder kantonale Steuern.
- Bund als letzte Instanz: Der direkte Kontakt zu Bundesämtern ist nur bei spezifischen, nationalen Themen wie der Aussenpolitik, der Landesverteidigung oder bei Beschwerden gegen Verfügungen letzter kantonaler Instanzen sinnvoll.
Diese Struktur ist eine Stärke, kein Hindernis. Wie die ehemalige Zürcher Regierungspräsidentin Jacqueline Fehr betonte, ist die Nähe zu den tatsächlichen Problemen der Schlüssel zum Erfolg:
Der Föderalismus ist kein Auslauf-, sondern ein Zukunftsmodell! Die Schweiz ist gerade wegen ihrer dezentralen Entscheidungsstrukturen und der Nähe zu den tatsächlichen Problemen beweglich und erfolgreich.
– Jacqueline Fehr, Regierungspräsidentin Kanton Zürich, 2021
Neutrale Guten Dienste: Wie vermittelt die Schweiz konkret in internationalen Konflikten?
Die « Guten Dienste » sind einer der bekanntesten und aktivsten Aspekte der Schweizer Aussenpolitik und eine direkte Anwendung ihrer Neutralität. Doch was bedeutet das konkret? Es geht weit über das blosse Anbieten von Konferenzräumen in Genf hinaus. Die Schweiz agiert als vertrauenswürdige und unparteiische Vermittlerin in internationalen Konflikten, weil sie keinen eigenen geopolitischen Machtinteressen folgt. Diese Vermittlungstätigkeit lässt sich in drei Hauptkategorien unterteilen.
Erstens agiert die Schweiz als Schutzmacht. Wenn zwei Staaten ihre diplomatischen Beziehungen abbrechen, übernimmt die Schweiz auf Ersuchen eines oder beider Staaten dessen konsularische und diplomatische Interessen im anderen Land. Das bekannteste Beispiel ist das Schutzmachtmandat für die USA im Iran, das die Schweiz seit 1980 ununterbrochen ausübt. Schweizer Diplomaten in Teheran ermöglichen so einen minimalen Kommunikationskanal und leisten konsularische Hilfe für US-Bürger.
Zweitens tritt die Schweiz als Gastgeberin und Moderatorin von Friedensverhandlungen auf. Ihre Neutralität und die exzellente Infrastruktur machen sie zu einem idealen Ort für heikle Gespräche. Die Verhandlungen zum iranischen Atomprogramm oder die Syrien-Gespräche sind nur einige Beispiele, bei denen die Schweiz nicht nur den Boden, sondern auch logistische und prozessuale Unterstützung bot, um den Dialog zwischen verfeindeten Parteien zu ermöglichen.
Drittens engagiert sich die Schweiz in der aktiven Mediation und Fazilitation. Hier entsenden Schweizer Diplomaten und Experten des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) Teams in Konfliktregionen, um direkt vor Ort Vertrauen aufzubauen und Friedensprozesse zu begleiten. Dies kann von der Unterstützung bei Waffenstillstandsverhandlungen bis hin zur Hilfe beim Aufbau demokratischer Institutionen nach einem Konflikt reichen, wie es beispielsweise in Kolumbien oder Mosambik der Fall war. Diese Arbeit ist oft diskret und findet abseits der grossen medialen Aufmerksamkeit statt.
Sprachgraben überwinden: Wie funktioniert Verständigung zwischen den Regionen konkret?
In einem Land mit vier Landessprachen ist die nationale Kohäsion keine Selbstverständlichkeit. Der oft zitierte « Röstigraben » zwischen der deutsch- und französischsprachigen Schweiz ist mehr als ein Klischee; er zeigt sich regelmässig in unterschiedlichem Abstimmungsverhalten. Der Föderalismus trägt dieser Vielfalt Rechnung, indem er den Kantonen die Hoheit über die Schulsprache gibt. Gleichzeitig sind jedoch nationale Mechanismen notwendig, um eine gemeinsame Identität und gegenseitiges Verständnis zu fördern.
Eine zentrale Rolle spielt dabei das Bildungssystem. Der obligatorische Unterricht in einer zweiten Landessprache ab der Primarschule ist ein Eckpfeiler dieser Strategie. Auch wenn die Umsetzung kantonal geregelt ist, besteht ein nationaler Konsens über die Notwendigkeit, sprachliche Brücken zu bauen. Austauschprogramme für Schüler und Lehrpersonen werden aktiv gefördert, um den direkten Kontakt über die Sprachgrenzen hinweg zu ermöglichen und Vorurteile abzubauen.
Ein weiterer, oft unterschätzter Mechanismus ist die Rolle der öffentlichen Medien. Die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG SSR) hat den expliziten Auftrag, zur Verständigung und zum Zusammenhalt der Gesellschaft beizutragen. Sie produziert Programme in allen vier Landessprachen und stellt sicher, dass Themen von nationaler Relevanz in allen Regionen rezipiert und diskutiert werden. Wie eine Analyse der Stiftung CH Föderalismus festhält, ist dies eine Besonderheit, denn die zentrale Rolle der SRG als nationale Klammer zeigt sich darin, dass der Bereich Radio und Fernsehen seit ihrer Gründung 1931 vom Bund dominiert wird – ein untypischer, aber bewusster Eingriff in die föderale Logik zugunsten des nationalen Zusammenhalts.
Schliesslich fördert auch das politische System selbst die Verständigung. Im Ständerat hat jeder Kanton, ob gross oder klein, zwei Sitze, was den kleineren (oft lateinischen) Kantonen ein relatives Übergewicht verleiht. In der Bundesverwaltung und im Bundesrat wird auf eine angemessene Vertretung der Sprachregionen geachtet (Konkordanz). Diese Mechanismen zwingen die politischen Akteure, über die eigene Sprachgrenze hinauszuschauen und kompromissfähige Lösungen zu finden, die für das ganze Land tragbar sind. Der Föderalismus schafft also nicht nur die Distanz, sondern liefert auch die Instrumente, um sie zu überbrücken.
Das Wichtigste in Kürze
- Föderalismus als bewusste Entscheidung: Die Schweiz hat sich aktiv für Autonomie und Vielfalt entschieden, um lokale Identitäten zu schützen, anstatt eine zentrale Macht zu schaffen.
- Das Subsidiaritätsprinzip als Regel: Entscheidungen werden immer auf der bürgernächsten Ebene getroffen. Ihre Gemeinde ist daher fast immer die erste und wichtigste Anlaufstelle.
- Neutralität als aktives Werkzeug: Die Schweizer Neutralität bedeutet nicht Passivität, sondern ermöglicht eine aktive Rolle als globale Vermittlerin durch die « Guten Dienste ».
Schweizer Neutralität: Wie bleibt sie in einer globalisierten Welt mit wachsenden Konflikten relevant?
Die Neutralität ist tief in der Schweizer DNA verankert, doch ihre Interpretation ist alles andere als statisch. In einer vernetzten Welt, in der wirtschaftliche Sanktionen und Cyberangriffe die traditionellen Grenzen eines Krieges verwischen, steht die Schweiz vor der ständigen Herausforderung, ihre Neutralitätspolitik neu zu definieren. Die Kernfrage lautet: Bedeutet Neutralität, sich komplett aus Konflikten herauszuhalten, oder erlaubt sie eine klare Positionierung bei der Verletzung von Völkerrecht?

Die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland nach der Invasion der Ukraine im Jahr 2022 markierte einen Wendepunkt und löste eine intensive nationale Debatte aus. Dieser Schritt zeigt, dass die moderne Schweizer Neutralität nicht wertefrei ist.
Fallbeispiel: Die Schweiz und die EU-Sanktionen gegen Russland
Nach anfänglichem Zögern übernahm die Schweiz am 28. Februar 2022 die Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland. Der Bundesrat betonte, dieser Schritt sei mit der Neutralität vereinbar, da die militärische Aggression eine schwerwiegende Verletzung elementarer Völkerrechtsnormen darstelle. Bis Dezember 2023 wurden daraufhin rund 7,7 Milliarden CHF an russischen Vermögen in der Schweiz eingefroren. Gleichzeitig hielt die Schweiz am Kern des Neutralitätsrechts fest und verweigerte Deutschland und anderen Ländern die Weitergabe von in der Schweiz hergestelltem Kriegsmaterial an die Ukraine, was international auf Kritik stiess. Dieser Fall illustriert den Balanceakt zwischen solidarischer Werteverteidigung und strikter militärischer Nichtbeteiligung.
Experten wie Laurent Goetschel, Direktor von swisspeace, argumentieren, dass das Neutralitätsrecht einen gewissen Spielraum lässt. Es verbietet primär die militärische Begünstigung einer Kriegspartei, nicht aber politische oder wirtschaftliche Massnahmen als Reaktion auf Völkerrechtsbrüche.
Der Bundesrat dürfte sogar direkt auf die Verfassung gestützt eigenständig weitergehende Massnahmen beschliessen. Das Neutralitätsrecht gebe nur vor, dass die Schweiz weder Russland, noch die Ukraine militärisch bevorteilen dürfe.
– Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft, Universität Basel und Direktor swisspeace
Die Relevanz der Neutralität liegt heute also weniger in der Isolation als in ihrer Glaubwürdigkeit als Vermittlerin. Nur weil die Schweiz militärisch bündnisfrei ist, kann sie ihre « Guten Dienste » anbieten und als vertrauenswürdige Akteurin in einer polarisierten Welt agieren. Die aktuelle Debatte zeigt, dass die Neutralität ein lebendiges Konzept ist, das jede Generation neu an die globalen Realitäten anpassen muss.
Das Verständnis des Föderalismus ist der erste und wichtigste Schritt, um Ihre Rolle als Bürger in der Schweiz aktiv zu gestalten. Nun, da Sie die Landkarte der Zuständigkeiten kennen, können Sie gezielt handeln. Informieren Sie sich über die nächsten Abstimmungen und Wahlen in Ihrer Gemeinde und Ihrem Kanton – dort haben Ihre Stimme und Ihr Engagement das grösste Gewicht.