Publié le 12 mai 2024

Entgegen der Annahme, sozialer Zusammenhalt sei nur eine Frage des guten Willens, ist er in Tat und Wahrheit das Resultat einer bewussten Gestaltungsaufgabe.

  • Die Entfremdung in Nachbarschaften ist oft strukturell bedingt und hängt direkt mit der vorherrschenden Wohnpolitik zusammen.
  • Wirksame Integration findet nicht in Sonderklassen, sondern im gemeinsamen Alltag statt, der bewusst gefördert werden muss.
  • Nationale Rituale wie die direkte Demokratie und ein gelebter Föderalismus sind die unsichtbare Architektur, die die Schweiz verbindet.

Empfehlung: Konzentrieren Sie sich als Entscheidungsträger auf die Schaffung und Optimierung von alltäglichen Interaktionsräumen – denn hier wird aus blosser Anwesenheit echte Gemeinschaft.

Ein Gefühl der Spaltung und Entfremdung macht sich in vielen westlichen Gesellschaften breit – und auch die Schweiz ist davor nicht gefeit. Trotz hoher Lebensqualität und stabiler Institutionen wächst die Sorge vor sozialer Fragmentierung. Viele Debatten drehen sich um bekannte Lösungsansätze wie die Förderung des Vereinslebens oder Appelle an die Solidarität. Man diskutiert über die Rolle der Sprache, die Bedeutung von Festen und die Verantwortung von Zugewanderten.

Doch diese Diskussionen greifen oft zu kurz, weil sie an der Oberfläche bleiben. Sie behandeln Symptome, ohne die tieferliegenden Ursachen zu adressieren. Was, wenn die entscheidenden Hebel für den Zusammenhalt weniger in grossen politischen Programmen als vielmehr in der unscheinbaren Architektur unseres Alltags liegen? In der Art, wie wir wohnen, wie unsere Kinder lernen und wie wir miteinander kommunizieren.

Dieser Artikel verlässt die ausgetretenen Pfade. Er argumentiert, dass echter sozialer Kitt durch eine bewusste Interaktionsarchitektur entsteht. Wir analysieren evidenzbasierte Massnahmen, die aus blosser räumlicher Nähe echte Gemeinschaft formen. Anhand konkreter Beispiele aus der Schweizer Praxis zeigen wir, welche Strukturen den Zusammenhalt fördern und welche ihn unbeabsichtigt untergraben. Von der Wohnsiedlung über das Schulzimmer bis hin zur digitalen Debatte – es ist an der Zeit, die Räume zu gestalten, in denen Gesellschaft tagtäglich neu entsteht.

In den folgenden Abschnitten untersuchen wir die entscheidenden Bausteine für eine kohäsive Gesellschaft. Wir analysieren, warum das Gefühl der Entfremdung zunimmt und welche konkreten Massnahmen auf lokaler, schulischer und nationaler Ebene wirklich einen Unterschied machen.

Warum fühlen sich 45% der Schweizer von Nachbarn entfremdet trotz räumlicher Nähe?

Die Wahrnehmung, dass man seine Nachbarn kaum noch kennt, ist mehr als nur ein Gefühl. Sie ist oft das direkte Ergebnis unserer gebauten Umwelt. Die moderne Stadt- und Quartierentwicklung hat über Jahrzehnte die funktionale Trennung priorisiert: Wohnen hier, Arbeiten dort, Einkaufen woanders. Diese Zersiedelung führt zu einer Abnahme spontaner, informeller Begegnungen im Alltag, die das Fundament jeder Nachbarschaft bilden. Wenn der öffentliche Raum primär als Transitraum dient und gemeinschaftlich genutzte Flächen fehlen, bleibt die Anonymität die logische Konsequenz.

Diese Entwicklung wird durch die Dynamiken am Wohnungsmarkt verschärft. Der Fokus auf Renditeobjekte führt oft zu einer hohen Fluktuation und einer homogenen Bewohnerschaft, die wenig Anreiz zur Gemeinschaftsbildung hat. Modelle, die den sozialen Zusammenhalt explizit fördern, bleiben in der Minderheit. So stagniert beispielsweise der Anteil von Genossenschaftswohnungen, die oft gemeinschaftliche Räume und partizipative Strukturen bieten, seit über zwei Jahrzehnten. Weniger als 7,9 % aller Mietwohnungen gehören Genossenschaften, wie der Verband der gemeinnützigen Wohnbauträger festhält.

Diese strukturellen Defizite in der Interaktionsarchitektur unserer Siedlungen sind der Nährboden für Entfremdung. Ohne die physischen und sozialen Strukturen, die Begegnung und Austausch ermöglichen, verkümmert der « soziale Kitt ». Die Frage ist also nicht, ob die Menschen unsozialer geworden sind, sondern ob wir ihnen überhaupt noch die Räume zur Verfügung stellen, in denen Gemeinschaft organisch wachsen kann. Es ist ein Gestaltungsauftrag an Planer, Gemeinden und die Immobilienwirtschaft.

Vom Quartiertreff bis zur Bürgerbeteiligung: Die 6 Bausteine lebendiger Gemeinschaften

Lebendige Gemeinschaften entstehen nicht zufällig. Sie sind das Ergebnis einer klugen Kombination aus physischen Gegebenheiten und sozialen Prozessen. Um der Anonymität entgegenzuwirken, müssen Gemeinden und engagierte Bürger an mehreren Schrauben gleichzeitig drehen. Sechs Bausteine haben sich in der Praxis als besonders wirksam erwiesen, um aus Nachbarn eine Gemeinschaft zu formen.

Diese Bausteine bilden ein Ökosystem für sozialen Zusammenhalt. Sie reichen von niedrigschwelligen Angeboten bis hin zu formellen Beteiligungsstrukturen:

  • Physische Begegnungsorte: Gemeinschaftsräume, Quartiertreffs, öffentliche Plätze mit hoher Aufenthaltsqualität oder Gemeinschaftsgärten schaffen die notwendige Bühne für spontane Interaktionen.
  • Geteilte Aktivitäten: Gemeinsame Projekte wie Urban Gardening, Repair-Cafés oder Quartierfeste geben den Bewohnern einen Grund, miteinander in Kontakt zu treten und an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten.
  • Lokale Kommunikationsplattformen: Eine Quartier-App, eine lokale Webseite oder ein einfaches « schwarzes Brett » helfen, Informationen zu teilen und die Organisation von Aktivitäten zu erleichtern.
  • Niederschwellige Partizipation: Die Möglichkeit, bei kleinen, konkreten Themen mitzuentscheiden (z. B. die Gestaltung eines Spielplatzes), stärkt die Identifikation mit dem Ort und das Verantwortungsgefühl.
  • Unterstützungsnetzwerke: Organisierter oder informeller Austausch von Hilfe, wie Babysitting-Ringe oder Nachbarschaftshilfe für Ältere, schafft starke, auf Gegenseitigkeit beruhende Bindungen.
  • Professionelle Gemeinwesenarbeit: Sozialarbeiter oder Quartier-Manager agieren als Katalysatoren, die Bedürfnisse erkennen, Initiativen anstossen und zwischen verschiedenen Akteuren vermitteln.

Der Kanton Zürich beispielsweise hat die Bedeutung dieser Faktoren erkannt und fördert gezielt sozialräumliche Projekte, die den Austausch zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen stärken. Solche Initiativen, die ein « Wir-Gefühl » erzeugen, sind eine direkte Investition in die Kohäsionsrendite eines Quartiers. Sie zeigen, dass staatliche Förderung dann am wirksamsten ist, wenn sie lokale Initiativen befähigt und die strukturellen Rahmenbedingungen für Begegnung verbessert.

Generationenübergreifendes Urban Gardening Projekt in einem Schweizer Quartier

Wie das Bild zeigt, sind generationenübergreifende Projekte wie Gemeinschaftsgärten ein perfektes Beispiel für eine gelungene Interaktionsarchitektur. Hier entstehen nicht nur Pflanzen, sondern vor allem soziale Beziehungen. Sie sind der lebende Beweis, dass die richtige Gestaltung von Raum und Aktivität den sozialen Zusammenhalt direkt fördert.

Zwangs-Quotierung oder freie Wohnortwahl: Was stärkt Zusammenhalt ohne Freiheit einzuschränken?

Die Frage, wie man sozial durchmischte und damit kohäsive Wohnquartiere schafft, führt unweigerlich zu einer heiklen Debatte: Soll der Staat über Quoten aktiv in die Zusammensetzung der Bewohnerschaft eingreifen oder auf die Selbstregulierung des Marktes und die freie Wohnortwahl vertrauen? Beide Extreme bergen Risiken. Strenge Quoten können als Eingriff in die persönliche Freiheit empfunden werden und zu Stigmatisierung führen. Eine reine Marktlogik hingegen fördert nachweislich die sozioökonomische Segregation – die Entstehung von homogenen Quartieren für Arm und Reich.

Die Daten für die Schweiz zeigen einen klaren Trend: Der Wohnungsmarkt verändert sich auf eine Weise, die die soziale Durchmischung erschwert. Eine Analyse auf Basis der Daten des Bundesamts für Statistik zeigt, dass bei Neubauten nach dem Jahr 2000 der Anteil an Mietwohnungen im Besitz von Privatpersonen zurückgegangen ist. Waren es gesamt betrachtet noch 45 % der Mietwohnungen in Privatbesitz, sank dieser Wert bei Neubauten auf nur noch 32 %. An ihre Stelle treten zunehmend institutionelle Investoren wie Pensionskassen oder Versicherungen, deren Fokus primär auf der Rendite liegt und weniger auf der sozialen Zusammensetzung des Quartiers.

Ein dritter Weg zwischen Zwang und Laissez-faire gewinnt daher an Bedeutung: die gezielte Förderung von gemeinnützigen und genossenschaftlichen Wohnbauträgern. Anstatt Quoten vorzuschreiben, schafft der Staat Anreize für Bauträger, die sich zu sozialer Durchmischung, stabilen Mieten und partizipativen Wohnformen verpflichten. Dies kann durch die vergünstigte Abgabe von Bauland, zinsgünstige Darlehen oder städtebauliche Verträge geschehen. Dieser Ansatz respektiert die freie Wohnortwahl, beeinflusst aber das Angebot so, dass durchmischte und stabile Nachbarschaften wahrscheinlicher werden. Es ist eine indirekte Steuerung, die auf Anreize statt auf Zwang setzt und eine langfristige Kohäsionsrendite verspricht.

Die föderale Struktur der Schweiz führt hier zu grossen Unterschieden, wie die folgende Tabelle zeigt. Kantone mit einem geringen Anteil an Privatvermietern wie Genf stehen vor anderen Herausforderungen als Kantone wie das Wallis, wo diese traditionell stark sind.

Eigentümertyp der Mietwohnungen nach Kantonen
Kanton Anteil Privatpersonen Besonderheit
Genf 27% Niedrigster Anteil schweizweit
Wallis 69% Höchster Anteil
Tessin 67% Zweithoechster Anteil
Schweiz gesamt 45% Durchschnitt

Warum Migrations-Spezialklassen Integration behindern statt fördern

Die Schule ist nach der Familie der wichtigste Ort für die Integration. Hier werden nicht nur Sprache und Wissen vermittelt, sondern auch soziale Normen und Netzwerke gebildet. Eine verbreitete, aber zunehmend kritisierte Massnahme zur Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund sind separate Aufbau- oder Deutschlernklassen. Die Idee dahinter scheint logisch: In einem geschützten Rahmen sollen sprachliche Defizite schnell aufgeholt werden. Doch die Praxis zeigt, dass dieser Ansatz die Segregation oft verstärkt und die langfristige Integration behindert.

Wenn Kinder über längere Zeit vom Regelunterricht getrennt werden, verpassen sie den entscheidenden sozialen Anschluss an ihre Gleichaltrigen. Freundschaften, die auf dem Pausenplatz und im gemeinsamen Unterricht entstehen, sind der stärkste Motor für den Spracherwerb und das Gefühl der Zugehörigkeit. Spezialklassen schaffen eine unsichtbare Barriere und zementieren das « Wir » und « Die »-Denken auf dem Schulhof. Dies widerspricht dem Kernziel der Integrationsagenda Schweiz, wonach 80 % der Kinder bei Schulbeginn in der Lage sein sollen, sich in der lokalen Sprache zu verständigen. Dieses Ziel wird am besten im täglichen Miteinander erreicht.

Der moderne Ansatz ist daher die strukturelle Integration direkt in der Regelklasse. Anstatt Kinder auszusondern, werden zusätzliche Ressourcen in die Klasse geholt. Dies geschieht durch:

  • Team-Teaching: Eine Regelklassen-Lehrperson und eine Fachperson für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) unterrichten gemeinsam.
  • Integrierte Förderung: Sprachförderung findet in Kleingruppen statt, die aber Teil des normalen Klassenverbands bleiben.
  • Zusätzliche Unterstützung: Schulsozialarbeit und interkulturelle Vermittler unterstützen Lehrpersonen und Eltern gezielt.
Kinder verschiedener Herkunft lernen gemeinsam in einer Schweizer Schulklasse

Das Bild von Händen, die gemeinsam an einem Projekt arbeiten, symbolisiert diesen Ansatz perfekt: Integration gelingt durch Kooperation an einer gemeinsamen Aufgabe, nicht durch Trennung. Es geht darum, Vielfalt als Ressource im Klassenzimmer zu nutzen, anstatt sie als Defizit in einen separaten Raum auszulagern.

Aktionsplan: Ausserschulische Integration durch die Schule fördern

  1. Götti/Gotte-Programme initiieren: Schulen vernetzen neu zugezogene Familien aktiv mit etablierten Familien, um den Einstieg zu erleichtern.
  2. Multilinguale Elternabende durchführen: Systematisch Elterninformationen und -gespräche mit Übersetzung anbieten, um alle Eltern zu erreichen.
  3. Freizeitprojekte etablieren: Gemeinsame Projekte (Sport, Kultur, Natur) zwischen Schulen und Quartiervereinen schaffen Begegnungen ausserhalb des Unterrichts.
  4. Schulkommunikation vereinfachen: Wichtige Informationen in einfacher Sprache und bei Bedarf in mehreren Sprachen zur Verfügung stellen, um Barrieren abzubauen.
  5. Frühe Sprachförderung intensivieren: Bereits im Vorschulalter in Spielgruppen und Kitas investieren, um sprachliche Grundlagen vor dem Schuleintritt zu stärken.

Gemeinsame Feste oder Herkunftskultur-Pflege: Was fördert Zusammenhalt langfristig?

Die Debatte über den Umgang mit kultureller Vielfalt wird oft auf eine falsche Alternative reduziert: Sollen Migranten ihre Herkunftskultur pflegen oder sich an gemeinsamen, « schweizerischen » Anlässen beteiligen? Diese « Entweder-oder »-Frage übersieht, dass beides für eine gelingende Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt entscheidend ist. Langfristig erfolgreich sind Konzepte, die eine Brücke zwischen diesen beiden Polen schlagen.

Die Pflege der Herkunftskultur ist wichtig für die persönliche Identität und das Selbstwertgefühl. Wer sich seiner Wurzeln sicher ist, kann offener auf andere zugehen. Reine Herkunftsvereine bergen jedoch die Gefahr, Parallelgesellschaften zu fördern, wenn sie den Austausch mit der Aufnahmegesellschaft nicht aktiv suchen. Umgekehrt können rein « schweizerische » Anlässe für Neuzugezogene Hürden aufweisen, wenn sie die kulturellen Codes nicht kennen. Sie fühlen sich möglicherweise nicht eingeladen oder willkommen.

Die Lösung liegt in der Schaffung von interkulturellen Plattformen, auf denen beides Platz hat: das Zeigen der eigenen Kultur und das Erleben der gemeinsamen. Ein hervorragendes Schweizer Beispiel dafür ist das Interkulturelle Forum Winterthur. Seit 1969 organisiert es Anlässe wie den « Tag der Völker », bei dem diverse Kulturen ihre kulinarischen und künstlerischen Traditionen einem breiten Publikum präsentieren. Solche Formate sind keine folkloristischen Nebenschauplätze, sondern zentrale Elemente der Interaktionsarchitektur einer Stadt. Sie fördern Neugier statt Angst und schaffen positive, persönliche Begegnungen, die Vorurteile am effektivsten abbauen.

Knapp die Hälfte der Schweizer Bevölkerung verfügt über einen Migrationshintergrund. Diese Vielfalt löst mancherorts Ängste aus und bringt Fragen auf.

– Eidgenössische Migrationskommission, Kampagne ‘Neues Wir’ zum 50-jährigen Jubiläum

Diese Aussage der Eidgenössischen Migrationskommission unterstreicht die Dringlichkeit. Anstatt Vielfalt als Problem zu sehen, geht es darum, sie als Ressource für eine reichere, gemeinsame Identität zu gestalten. Langfristiger Zusammenhalt entsteht, wenn das « Eigene » einen sicheren Platz hat und gleichzeitig die Brücken zum « Anderen » aktiv gebaut und gefeiert werden.

Sprachgraben überwinden: Wie funktioniert Verständigung zwischen den Regionen konkret?

Der « Röstigraben » ist mehr als ein Klischee; er symbolisiert die kulturellen und mentalen Unterschiede zwischen den Sprachregionen der Schweiz. Während Mehrsprachigkeit offiziell zur nationalen Identität gehört, findet die alltägliche Lebenswelt der meisten Menschen einsprachig statt. Die Verständigung über die Sprachgrenzen hinweg bleibt eine stetige Herausforderung. Traditionelle Instrumente wie der Schüleraustausch sind wichtig, erreichen aber nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Wie kann Verständigung im digitalen Zeitalter neu gedacht werden?

Paradoxerweise bietet die Digitalisierung, die oft als Treiber der Polarisierung gesehen wird, hier neue Chancen. Sie ermöglicht die Schaffung einer « digitalen Allmend » – gemeinsamer virtueller Räume, in denen Austausch stattfinden kann. Das können mehrsprachige nationale Medienportale sein, aber auch Kulturprojekte, die digital über die Sprachgrenzen hinweg zusammenarbeiten, oder zivilgesellschaftliche Debattenplattformen. Laut dem aktuellen Digitalbarometer sehen 51 % der Schweizer Bevölkerung den digitalen Wandel als Chance für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Konkret funktioniert Verständigung dann, wenn sie an gemeinsamen Interessen und Sachthemen anknüpft, anstatt die Sprache selbst zum Thema zu machen. Ob es sich um eine Online-Gruppe von Schweizer Hobby-Imkern, eine nationale Kampagne zum Klimaschutz oder eine Debatte über eine eidgenössische Abstimmung handelt: Wenn das Thema relevant ist, wird die Sprache zur Nebensache bzw. zu einer überwindbaren Hürde. Tools wie automatische Übersetzungen können hier helfen, erste Barrieren zu senken. Der entscheidende Faktor ist jedoch der gemeinsame Inhalt, der eine Identität jenseits der Sprachregion schafft – eine « themenbasierte Identität ».

Die Förderung solcher nationaler Diskurse ist eine zentrale Aufgabe. Es geht darum, die mediale und zivile Infrastruktur zu stärken, die es ermöglicht, dass ein Thema in Genf, Lugano und Zürich gleichzeitig und miteinander, nicht nur nebeneinander, diskutiert wird. Nur so kann aus den verschiedenen sprachregionalen Öffentlichkeiten eine gemeinsame, schweizerische Öffentlichkeit erwachsen, die den nationalen Zusammenhalt stärkt.

Kantonsidentität oder Schweizer Identität: Welche Ebene zuerst fördern?

Der Schweizer Föderalismus ist ein Meisterwerk der Balance. Er ermöglicht eine starke lokale und kantonale Identität, ohne die nationale Einheit zu gefährden. Doch in Zeiten zunehmender globaler und nationaler Herausforderungen stellt sich die Frage neu: Sollte der Fokus auf der Stärkung des Kantons (« Kantönligeist ») oder auf einer übergreifenden Schweizer Identität liegen? Die Antwort lautet auch hier: Es ist kein « Entweder-oder », sondern ein « Sowohl-als-auch ». Ein gelebter Föderalismus ist die beste Garantie für nationalen Zusammenhalt.

Die kantonale Ebene ist für die meisten Menschen die primäre politische und emotionale Heimat. Hier findet das Leben statt, hier geht man zur Schule, hier fühlt man sich zugehörig. Diese starke lokale Verankerung ist ein Puffer gegen die Entfremdung in einer globalisierten Welt. Eine Politik, die versucht, diese kantonalen Identitäten zugunsten einer abstrakten « Schweizer Identität » zu schwächen, würde das Fundament des Zusammenhalts untergraben. Die oft als gering empfundene Stimmbeteiligung bei eidgenössischen Abstimmungen (durchschnittlich 45,9 %) deutet darauf hin, dass die nationale Politik für viele weiter entfernt ist als die kantonale.

Gleichzeitig braucht es aber verbindende Elemente auf nationaler Ebene, damit das Land nicht in 26 Einzelteile zerfällt. Die Schweizer Identität speist sich nicht aus einer gemeinsamen Sprache oder Kultur, sondern aus gemeinsamen Werten und Institutionen: Rechtsstaatlichkeit, Neutralität, Kompromissbereitschaft und vor allem die direkte Demokratie. Die Förderung der Schweizer Identität bedeutet also nicht, Folklore zu zelebrieren, sondern das Bewusstsein und das Verständnis für diese einzigartigen politischen Mechanismen zu stärken.

Symbolische Darstellung des Schweizer Föderalismus durch verschiedene Kantonselemente

Die stärkste Schweizer Identität ist jene, die auf stolzen und selbstbewussten kantonalen Identitäten aufbaut. Der Zusammenhalt wird dann am besten gefördert, wenn beide Ebenen respektiert und gepflegt werden: die Kantone als Orte der unmittelbaren Zugehörigkeit und die Eidgenossenschaft als der gemeinsame Rahmen, der diese Vielfalt schützt und zusammenhält. Es ist die Kunst der Einheit in der Vielfalt, die es zu kultivieren gilt.

Das Wichtigste in Kürze

  • Sozialer Zusammenhalt ist kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis gezielter Gestaltung von Wohnraum, Schulen und öffentlichen Plätzen.
  • Wirksame Integration setzt auf gemeinsame Erlebnisse in Regelstrukturen statt auf die Separation in Sondergruppen.
  • Die einzigartigen politischen Rituale der Schweiz, wie Föderalismus und direkte Demokratie, sind der entscheidende Kitt, der die vielfältige Gesellschaft verbindet.

Nationale Identität pflegen: Welche Rituale verbinden die viersprachige Schweiz?

Was hält eine Nation zusammen, die vier Sprachen, diverse Kulturen und 26 starke Kantonsidentitäten vereint? In der Schweiz ist es weniger eine gemeinsame Abstammung oder Kultur als vielmehr ein Set an einzigartigen, tief verankerten politischen Ritualen. Diese gemeinsamen « Spielregeln » und wiederkehrenden Handlungen bilden das Rückgrat der nationalen Identität und wirken als starke, verbindende Kraft über alle Gräben hinweg.

Das mit Abstand wichtigste dieser Rituale ist der Abstimmungssonntag. Bis zu vier Mal pro Jahr ist die gesamte Nation aufgerufen, über Sachfragen zu entscheiden. Dieser Akt ist weit mehr als nur ein Urnengang. Es ist ein wiederkehrender, nationaler Dialog. Im Vorfeld wird in Familien, an Stammtischen und in den Medien über die gleichen Themen gestritten und debattiert – von Genf bis St. Margrethen. Die gemeinsame Auseinandersetzung mit den Vorlagen und das Akzeptieren des Resultats, auch wenn man verloren hat, ist eine fundamental demokratische und gemeinschaftsbildende Übung. Die schiere Häufigkeit ist weltweit einzigartig; eine Analyse von SWI swissinfo.ch zeigt, dass die Schweizer Bürger an über 600 Volksabstimmungen auf nationaler Ebene seit 1900 teilnehmen konnten, was mehr als der Hälfte aller weltweiten Referenden entspricht.

Neben der direkten Demokratie gibt es weitere verbindende Elemente, die oft übersehen werden:

  • Das Konkordanzsystem: Die Einbindung aller grossen politischen Kräfte in die Regierungsverantwortung zwingt zum ständigen Kompromiss und verhindert eine « Winner-takes-all »-Mentalität, die Gesellschaften spaltet.
  • Der Föderalismus: Wie zuvor diskutiert, ermöglicht er die Koexistenz starker regionaler Identitäten unter einem gemeinsamen nationalen Dach.
  • Das Milizsystem: Die breite Beteiligung von Bürgern in Politik, Militär und Rettungsdiensten schafft eine geteilte Verantwortung und Erfahrung über soziale und sprachliche Grenzen hinweg.

Die Pflege der nationalen Identität in der Schweiz bedeutet daher nicht primär, Fahnen zu schwenken. Es bedeutet, das Wissen über diese einzigartigen politischen Mechanismen zu vermitteln, ihre Funktionsweise zu erklären und die nächste Generation für die Teilnahme an diesen Ritualen zu motivieren. Denn dieser « gelebte Bürgerstolz » ist der nachhaltigste soziale Kitt für die viersprachige Willensnation.

Die Stärkung des sozialen Zusammenhalts ist kein abstraktes Ziel, sondern eine konkrete Gestaltungsaufgabe auf allen Ebenen der Gesellschaft. Als Sozialarbeiter, Gemeindeverantwortlicher oder engagierter Bürger haben Sie die Möglichkeit, in Ihrem direkten Umfeld die Weichen für mehr Miteinander zu stellen. Beginnen Sie damit, die Interaktionsarchitektur in Ihrem Quartier, Ihrer Schule oder Ihrem Verein zu analysieren und gezielt zu verbessern.

Häufige Fragen zum Thema sozialer Zusammenhalt und Digitalisierung

Welches Risiko sehen die meisten Schweizer durch Digitalisierung?

45% nehmen gesellschaftliche Polarisierung und Spaltung als dritthäufigstes Risiko wahr. Soziale Netzwerke können extreme Positionen verstärken und zur Bildung von « Echokammern » beitragen.

Wie unterscheidet sich die Wahrnehmung nach Sprachregion?

In der italienischsprachigen Schweiz wird lokales Engagement sogar als grösste Chance wahrgenommen (78% vs. 51% Gesamtschweiz). Dies deutet auf ein besonders hohes Potenzial für digital unterstützte, lokale Gemeinschaftsprojekte im Tessin hin.

Gefährdet Digitalisierung den Zusammenhalt?

Ja, eine deutliche Mehrheit von 66% der Bevölkerung – unabhängig von politischer Orientierung – sieht den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch die Digitalisierung als gefährdet an. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, digitale Räume bewusst so zu gestalten, dass sie den Dialog fördern statt ihn zu untergraben.

Rédigé par Stefan Meier, Stefan Meier ist Politikwissenschaftler mit Spezialisierung auf Schweizer Föderalismus und direkte Demokratie, promoviert an der Universität Bern. Seit 15 Jahren erforscht er als Dozent am Institut für Politikwissenschaft die Funktionsweise schweizerischer Institutionen und berät Behörden zu föderalen Strukturen. Er publiziert regelmässig zu Fragen der Gewaltenteilung, der Neutralitätspolitik und des gesellschaftlichen Zusammenhalts in mehrsprachigen Demokratien.