Publié le 7 septembre 2024

Die Zukunft des Schweizer Tourismus hängt nicht von der Maximierung der Besucherzahlen ab, sondern von der intelligenten Steuerung von Zielkonflikten zwischen Ökonomie, Ökologie und Lebensqualität.

  • Statt auf reines Wachstum zu setzen, müssen Destinationen die Wertschöpfung pro Gast in den Mittelpunkt stellen.
  • Wirksame Massnahmen wie in Zermatt zeigen, dass die Begrenzung von Kapazitäten (Verkehr, Betten) die Exklusivität und das Erlebnis steigert.
  • Die Förderung der Nebensaison und die Gewährleistung der Lebensqualität für Einheimische sind keine Nebenschauplätze, sondern die Grundlage für langfristige Resilienz.

Empfehlung: Führen Sie eine ehrliche Analyse Ihrer Destination durch: Wo liegen Ihre Kapazitätsgrenzen? Wie hoch ist die tatsächliche Wertschöpfung pro Gast? Nur so können Sie den Übergang von einem reinen Erlebnisraum zu einem geteilten, nachhaltigen Lebensraum gestalten.

Das Bild der Schweiz ist weltweit geprägt von majestätischen Gipfeln, kristallklaren Seen und unberührter Natur. Dieses Kapital zieht jährlich Millionen von Menschen an und macht den Tourismus zu einer tragenden Säule der Volkswirtschaft. Doch hinter der Postkartenidylle wächst ein fundamentaler Zielkonflikt: Wie viel Tourismus verträgt ein Ort, bevor er seine Seele verliert? Die Antwort vielerorts scheint in der Maximierung von Logiernächten und Besucherströmen zu liegen. Doch dieser Weg führt oft in eine Sackgasse, die als Overtourism bekannt ist – ein Phänomen, das nicht nur die Natur, sondern auch die lokale Bevölkerung und paradoxerweise sogar die Qualität des touristischen Erlebnisses selbst unter Druck setzt.

Die eigentliche Herausforderung liegt tiefer als in der reinen Besucherzahl. Es geht um die Frage, ob ein Ort primär ein authentischer Lebensraum für seine Bewohner oder ein austauschbarer Erlebnisraum für Touristen sein soll. Viele Strategien fokussieren auf einfache Lösungen wie Marketing für die Nebensaison oder neue Wanderwege. Doch wenn die grundlegende Struktur – unkontrollierter Bettenbau, Abhängigkeit von wenigen Märkten, Vernachlässigung der Einheimischen – nicht angegangen wird, bleiben dies nur Symptombekämpfungen. Der wahre Hebel für einen zukunftsfähigen Tourismus liegt nicht darin, *mehr* zu tun, sondern die Dinge *anders* zu steuern. Es geht um einen Paradigmenwechsel: weg von der Quantität der Gäste, hin zur Qualität des Angebots und der Wertschöpfung pro Besucher.

Dieser Artikel taucht tief in die realen Zielkonflikte ein, mit denen sich Schweizer Destinationen konfrontiert sehen. Anhand konkreter Beispiele von Interlaken bis Zermatt und von Luzern bis Bern analysieren wir, welche Massnahmen tatsächlich funktionieren und welche Modelle langfristig Arbeitsplätze und Lebensqualität sichern. Es ist eine Analyse, die zeigt, dass Tourismus ohne Raubbau möglich ist – wenn man bereit ist, Kapazitäten bewusst zu steuern und Wertschöpfung neu zu definieren.

Der folgende Leitfaden analysiert die komplexen Herausforderungen und zeigt praxisnahe Lösungsansätze für einen ausgewogenen Tourismus in der Schweiz auf. Die Gliederung führt Sie durch die zentralen Spannungsfelder und Erfolgsmodelle.

Warum verlor Interlaken 30% seiner Stammgäste durch Overtourism?

Interlaken ist ein Paradebeispiel für einen Ort, der an seinem eigenen Erfolg zu ersticken droht. Die Zahlen scheinen zunächst eine Erfolgsgeschichte zu erzählen: In den ersten neun Monaten 2024 wurden fast ein Viertel mehr Logiernächte gezählt als noch vor fünf Jahren. Dieses Wachstum wird jedoch von einer fundamentalen Verschiebung in der Gästestruktur begleitet. Während die Schweiz, die USA und Korea die Top-Märkte bilden, gewinnen auch Länder wie Indien und Brasilien an Bedeutung. Diese neuen Gästegruppen haben oft andere Reisegewohnheiten: kürzere Aufenthalte, ein Fokus auf wenige ikonische Sehenswürdigkeiten und eine geringere Interaktion mit der lokalen Kultur.

Dieser Wandel hat einen hohen Preis. Die traditionellen Stammgäste, die oft für längere Zeit blieben und eine tiefere Verbindung zum Ort pflegten, fühlen sich zunehmend verdrängt. Der Lärm, die Menschenmassen und die Ausrichtung der Infrastruktur auf schnelllebigen Massentourismus führen dazu, dass sich diese treue Klientel abwendet. Schätzungen deuten darauf hin, dass Destinationen wie Interlaken bis zu 30% ihrer Stammgäste verloren haben, weil das Erlebnis nicht mehr dem entspricht, was sie ursprünglich schätzten. Es entsteht ein Teufelskreis: Um die schwindende Auslastung durch den Verlust von Stammgästen zu kompensieren, wird noch stärker auf volumenstarke, aber margenschwache Märkte gesetzt, was den Overtourism weiter anheizt.

Die Herausforderung für Interlaken besteht darin, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Es geht nicht darum, neue Märkte auszuschliessen, sondern darum, die Balance wiederzufinden. Ein reines Wachstum der Logiernächte ist kein nachhaltiger Erfolgsindikator, wenn gleichzeitig die Wertschöpfung pro Gast sinkt und die soziale Akzeptanz in der Bevölkerung schwindet. Die Frage ist nicht, *ob* Interlaken wächst, sondern *wie* es wächst und welchen Preis es dafür zahlt.

Zermatt autofrei, Saas-Fee elektrifiziert: Welche Massnahmen funktionieren wirklich?

Die autofreien Destinationen der Schweiz gelten als Pioniere des nachhaltigen Tourismus. Doch « autofrei » ist nicht gleich « autofrei ». Die Erfolgsmodelle von Zermatt, Saas-Fee oder Wengen basieren auf sehr unterschiedlichen und konsequent umgesetzten Konzepten. Der entscheidende Faktor ist nicht das Verbot von Autos allein, sondern die Schaffung eines lückenlosen und hochwertigen alternativen Mobilitätssystems. In Zermatt bedeutet dies, dass Besucher ihr Fahrzeug im riesigen Matterhorn Terminal in Täsch mit 2100 überdachten Parkplätzen abstellen und die letzten Kilometer mit der Bahn zurücklegen. Im Ort selbst sorgen kleine Elektromobile und Pferdekutschen für den Transport.

Dieses System ist mehr als nur eine ökologische Massnahme; es ist ein zentraler Bestandteil des Geschäftsmodells. Die bewusste Begrenzung des Zugangs steigert die Exklusivität und das Qualitätsempfinden der Gäste. Es entschleunigt den Ort und schafft eine einzigartige Atmosphäre, die einen höheren Preis rechtfertigt. Der Verzicht auf das Auto wird nicht als Einschränkung, sondern als Luxusgut positioniert – der Luxus von Ruhe, sauberer Luft und Sicherheit. Die Massnahme funktioniert, weil sie nicht isoliert ist, sondern in eine Gesamtstrategie der Qualitäts- und Kapazitätssteuerung eingebettet ist.

Elektrisches Taxi in autofreiem Zermatt mit Matterhorn im Hintergrund

Der Vergleich zeigt die unterschiedlichen Ansätze, die jedoch alle auf dem Prinzip der konsequenten Verkehrsverlagerung beruhen. Eine solche Strategie erfordert Mut und hohe Anfangsinvestitionen, zahlt sich aber langfristig durch eine klare Positionierung und eine höhere Wertschöpfung aus.

Vergleich autofreier Schweizer Destinationen
Destination Autofrei seit Alternative Mobilität Besonderheit
Zermatt 1961 Elektromobile, E-Busse, Pferdekutschen Lokal produzierte Elektromobile
Saas-Fee 1951 Elektrotaxis, Elektrobusse Pionier der Elektromobilität
Wengen 1893 Zahnradbahn Nur per Bahn erreichbar

5 Millionen Besucher oder 500.000: Welches Tourismusmodell sichert langfristig Arbeitsplätze?

Die Debatte um die Zukunft des Tourismus wird oft auf eine einfache Frage reduziert: Quantität oder Qualität? Doch hinter dieser Frage verbirgt sich ein fundamentaler Zielkonflikt, der die Stabilität von Arbeitsplätzen direkt betrifft. Ein Modell, das auf Millionen von Tages- und Kurzaufenthaltsgästen mit geringer Ausgabebereitschaft setzt, schafft zwar auf den ersten Blick Beschäftigung, doch diese ist oft saisonal, prekär und im Niedriglohnsektor angesiedelt. Die wirtschaftliche Bedeutung des Sektors ist unbestritten; laut Statistiken gehört der Schweizer Tourismus zu den wichtigsten Exportbranchen, mit Einnahmen aus dem ausländischen Reiseverkehr von rund 9 Milliarden Schweizer Franken allein im Jahr 2020. Die Frage ist, wie diese Einnahmen nachhaltig generiert werden.

Ein alternatives Modell, das auf weniger, aber dafür zahlungskräftigere und länger bleibende Gäste zielt, kann eine höhere Wertschöpfung pro Gast erzielen. Dies ermöglicht es Unternehmen, in qualifizierte Mitarbeitende, bessere Löhne und ganzjährige Anstellungsmodelle zu investieren. Statt vieler Jobs im Souvenirshop oder an der Imbissbude entstehen hochwertige Arbeitsplätze in der Hotellerie, in der Gastronomie mit lokalen Produkten oder bei spezialisierten Anbietern von Kulturerlebnissen. Die Sicherung von Arbeitsplätzen hängt also nicht von der absoluten Besucherzahl ab, sondern von der Profitabilität und Resilienz des gesamten touristischen Ökosystems.

Ein zentrales Ziel von Interlaken Tourismus ist es, Interlaken als Ganzjahresdestination zu stärken.

– Sandro Bolton, Präsident Interlaken Tourismus

Die Stärkung der Nebensaison, wie sie hier von Sandro Bolton für Interlaken angestrebt wird, ist ein entscheidender Hebel, um die saisonale Abhängigkeit zu reduzieren und aus saisonalen Stellen ganzjährige Karrieren zu machen. Ein Modell mit 500’000 Gästen, die im Schnitt doppelt so lange bleiben und doppelt so viel ausgeben, ist für die lokale Wirtschaft und die Stabilität der Arbeitsplätze weitaus wertvoller als ein Modell mit 5 Millionen Kurzbesuchern.

Der Bettenburg-Fehler, der Schweizer Bergdörfer in Geisterstädte verwandelte

In den 1960er und 70er Jahren erlebten viele Schweizer Bergdörfer einen Bauboom. Angetrieben von der steigenden Nachfrage nach Ferienimmobilien, entstanden riesige Apartmentkomplexe und Chalets – die sogenannten « Bettenburgen ». Dahinter stand die Annahme, dass mehr Betten automatisch mehr Gäste und mehr Wohlstand bedeuten. Heute ist klar: Dies war ein Trugschluss mit verheerenden Folgen. Das Phänomen der « kalten Betten » beschreibt Zweitwohnungen, die den grössten Teil des Jahres leer stehen. Sie belegen wertvollen Baugrund, treiben die Immobilienpreise für Einheimische in unerschwingliche Höhen und tragen kaum zur lokalen Wirtschaft bei.

Während der Nebensaison verwandeln sich Teile dieser Dörfer in Geisterstädte. Die Rollläden sind unten, Restaurants und Läden schliessen, weil die kritische Masse an ständigen Bewohnern fehlt. Die Infrastruktur – von der Kanalisation bis zur Strasse – muss jedoch ganzjährig für die maximale Kapazität unterhalten werden, was die Gemeinden finanziell stark belastet. Die Zweitwohnungsinitiative von 2012 war eine Reaktion auf diesen Missstand, doch die Probleme bleiben bestehen. Selbst im dicht bebauten Zermatt, wo Parkplätze Mangelware sind, existieren rund 2500 unterirdische Parkplätze, viele davon gehören zu Zweitwohnungen und illustrieren den immensen, unsichtbaren Fussabdruck dieser Entwicklung.

Fallbeispiel: Die Herausforderung der « kalten Betten »

Eine Gemeinde im Wallis mit 2’000 ständigen Einwohnern verfügt über 10’000 Gästebetten, davon 70% in Zweitwohnungen. Während der Hochsaison im Februar ist der Ort überfüllt. Im November hingegen stehen hunderte Wohnungen leer, die Schule kämpft um genügend Schüler, und der einzige Lebensmittelladen ist kaum rentabel. Die Gemeinde muss die Kosten für eine Infrastruktur tragen, die für 12’000 Menschen ausgelegt ist, obwohl sie die meiste Zeit des Jahres nur von einem Bruchteil genutzt wird. Dieses Ungleichgewicht erodiert die Lebensgrundlage und macht den Ort für junge Familien unattraktiv.

Der Bettenburg-Fehler lehrt eine wichtige Lektion: Nachhaltiger Tourismus braucht eine lebendige lokale Gemeinschaft als Fundament. Eine Strategie, die auf die « warme » Bewirtschaftung von Betten setzt – also eine hohe Auslastung durch die Hotellerie und eine aktive Vermietung von Ferienwohnungen – ist langfristig weitaus resilienter als der unkontrollierte Bau von Zweitwohnungen.

Nebensaison fördern: Wie füllen Destinationen Hotels im Mai statt nur im August?

Die starke Saisonalität ist eine der grössten wirtschaftlichen Herausforderungen für den Schweizer Tourismus. Während die Hotels im Juli und August aus allen Nähten platzen, herrscht in den Monaten Mai, Oktober oder November oft gähnende Leere. Dieses Ungleichgewicht führt zu einer ineffizienten Nutzung der teuren Infrastruktur und zu prekären Saisonarbeitsverhältnissen. Das Ziel muss es sein, die Nachfrage gleichmässiger über das Jahr zu verteilen. Mit insgesamt 42,8 Millionen Hotellogiernächten im Jahr 2024 ist das Potenzial riesig, wenn auch nur ein kleiner Teil davon in die Nebensaison verlagert werden kann.

Dies erfordert jedoch mehr als nur ein paar Rabattaktionen. Es braucht eine proaktive Produktentwicklung, die gezielt die Stärken der Nebensaison herausarbeitet. Der goldene Herbst im Engadin, die Apfelblüte am Bodensee im Frühling oder ruhige Wellness-Wochenenden im November sind eigenständige Erlebnisse, die aktiv vermarktet werden müssen. Anstatt zu versuchen, das Hochsaison-Angebot zu kopieren, geht es darum, authentische und spezifische Nebensaison-Erlebnisse zu schaffen.

Herbstliche Berglandschaft mit wenigen Wanderern auf einsamen Pfaden

Einige Destinationen gehen sogar noch einen Schritt weiter und betreiben bewusstes « De-Marketing » für die Hochsaison, indem sie auf die überfüllten Bedingungen hinweisen und aktiv auf die ruhigeren Monate lenken. Der Schlüssel liegt in einem Bündel von Massnahmen, die ineinandergreifen.

Aktionsplan: Strategien zur Belebung der Nebensaison

  1. Spezifische Angebote entwickeln: Kreieren Sie thematische Pakete, die nur in der Nebensaison verfügbar sind, wie z.B. « Indian Summer »-Wanderwochen im Engadin oder kulinarische Trüffel-Wochenenden im Jura.
  2. Neue Zielgruppen ansprechen: Fördern Sie aktiv « Workation »-Angebote für digitale Nomaden, die ortsunabhängig arbeiten und ruhigere Perioden bevorzugen.
  3. Infrastruktur anpassen: Prüfen Sie eine frühere Öffnung oder spätere Schliessung der Bergbahn-Infrastruktur, um die Wandersaison zu verlängern und die Attraktivität des Frühlings und Herbstes zu steigern.
  4. Lokale Kooperationen stärken: Arbeiten Sie mit lokalen Anbietern zusammen, um Kurse wie Yoga-Retreats, Fotografie-Workshops oder Sprachkurse in der ruhigeren Zeit anzubieten.
  5. Besucherströme aktiv lenken: Nutzen Sie dynamische Preisgestaltung und gezieltes « De-Marketing » der Hochsaison, um Anreize für eine Reise in der Nebensaison zu schaffen.

Der schleichende Kollaps, den 90% der Touristen nicht sehen: Permafrost und Naturgefahren

Während die Debatte über Overtourism oft von sichtbaren Menschenmassen dominiert wird, spielt sich die vielleicht grösste Bedrohung für den alpinen Tourismus im Verborgenen ab: der Klimawandel und seine Folgen. Das Tauen des Permafrosts, der als « ewiger Zement » der Alpen gilt, destabilisiert ganze Bergflanken. Wanderwege müssen verlegt, Stützen von Seilbahnen aufwändig im Fels neu verankert und Schutzbauten gegen Murgänge und Felsstürze errichtet werden. Diese schleichende Destabilisierung ist für den durchschnittlichen Touristen unsichtbar, verursacht aber immense Kosten und stellt ein wachsendes Sicherheitsrisiko dar.

Die Zunahme von Extremwetterereignissen verschärft die Situation. Starke Regenfälle können in bereits geschwächten Gebieten zu katastrophalen Erdrutschen führen, während Gletscherschmelze neue, instabile Seen bildet. Nachhaltiger Tourismus bedeutet hier vor allem Risikomanagement und Anpassung. Es geht darum, die Kapazitätsgrenzen der Natur anzuerkennen und die touristische Entwicklung nicht weiter in gefährdete Zonen auszuweiten. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Tourismusplanern, Glaziologen, Geologen und Sicherheitsexperten.

Fallbeispiel: Proaktive Besucherlenkung am Oeschinensee

Der Oeschinensee im Berner Oberland wurde in den letzten Jahren, auch durch Social Media, zu einem extrem beliebten Ausflugsziel. Um den Ansturm auf die sensible alpine Umwelt zu bewältigen und die Sicherheit zu gewährleisten, wurden proaktive Massnahmen zur Besucherlenkung eingeführt. Dazu gehören die Reservation von Parkplätzen an Spitzentagen und ein Online-Ticketsystem für die Gondelbahn. Diese Instrumente ermöglichen es, die Anzahl der Besucher auf ein verträgliches Mass zu begrenzen und die Ströme zeitlich zu verteilen. Es ist ein Beispiel dafür, wie eine Destination die Kontrolle zurückgewinnt, anstatt vom eigenen Erfolg überrannt zu werden.

Die Akzeptanz, dass nicht jeder Ort zu jeder Zeit für eine unbegrenzte Anzahl von Menschen zugänglich sein kann, ist ein entscheidender Schritt. Die Natur setzt die wahren Grenzen, und ein nachhaltiger Tourismus muss lernen, diese nicht nur zu respektieren, sondern sie als Grundlage seiner Planung zu verwenden.

Wenn Luzern zur Disneyland-Kopie wird: Die Gentrifizierung, die 40% der Altstadtbewohner vertrieb

Luzern ist eine Stadt von Weltruf, doch ihr Erfolg hat eine dunkle Kehrseite. Die massive Konzentration auf den internationalen, insbesondere den asiatischen Gruppentourismus, hat das Gesicht der Altstadt dramatisch verändert. Traditionelle Fachgeschäfte mussten Uhren- und Souvenirläden weichen, authentische Beizen wurden zu Touristenrestaurants. Die Stadt droht, ihre Seele zu verlieren und zu einer austauschbaren Kulisse zu verkommen – einer Art « Disneyland » für Tagestouristen. Paradoxerweise scheint dieses Modell nicht einmal mehr wirtschaftlich überragend erfolgreich zu sein: Unterdurchschnittlich stark legte die Zahl der Logiernächte in Luzern mit nur +2,7% in den letzten fünf Jahren zu, da die Stadt stark von der langsamen Erholung bestimmter Märkte abhängig ist.

Die gravierendste Folge ist jedoch die soziale Gentrifizierung. Steigende Mieten, Lärm und der Verlust von alltäglicher Infrastruktur wie Bäckereien oder Metzgereien haben dazu geführt, dass Schätzungen zufolge bis zu 40% der ursprünglichen Altstadtbewohner weggezogen sind. Der Lebensraum wird zum reinen Erlebnisraum. Dieser Prozess ist brandgefährlich, denn die Authentizität und Lebensqualität, die eine Stadt für Touristen attraktiv machen, basieren auf einer lebendigen, ansässigen Bevölkerung. Wenn die Einheimischen gehen, stirbt die Stadt von innen heraus und verliert genau das, was sie einzigartig machte.

Luzern ist ein grösserer Ort mit mehr Menschen, die nichts mit dem Tourismus zu tun haben. Da kann es schwieriger werden.

– Markus Berger, Schweiz Tourismus

Markus Bergers Aussage deutet auf den Kern des Problems hin: In einer Stadt wie Luzern ist der Zielkonflikt zwischen den Bedürfnissen der Bewohner und denen der Tourismusindustrie besonders ausgeprägt. Eine nachhaltige Strategie müsste hier ansetzen: durch eine aktive Stadtplanung, die bezahlbaren Wohnraum sichert, die Ansiedlung von Geschäften für den täglichen Bedarf fördert und die touristische Nutzung von Wohnraum (z.B. via Airbnb) streng reguliert. Nur so kann verhindert werden, dass die Stadt ihre Seele verkauft.

Das Wichtigste in Kürze

  • Von Quantität zu Qualität: Der Erfolg einer Destination misst sich nicht an der Anzahl der Besucher, sondern an der Wertschöpfung pro Gast und der Qualität des Erlebnisses.
  • Aktive Steuerung statt passivem Wachstum: Nachhaltiger Tourismus erfordert mutige Entscheidungen zur Kapazitätssteuerung, sei es durch Verkehrsregime, Ticketingsysteme oder die Regulierung von Zweitwohnungen.
  • Lebensraum vor Erlebnisraum: Die Sicherung der Lebensqualität für die einheimische Bevölkerung ist die Grundvoraussetzung für einen authentischen und langfristig erfolgreichen Tourismus.

Bern, Luzern, Basel: Was macht historische Schweizer Städte zu Orten mit höchster Lebensfreude?

Während Luzern mit den negativen Folgen des Massentourismus kämpft, zeigt ein Blick auf andere Schweizer Städte, dass ein anderer Weg möglich ist. Insbesondere Bern hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht. Die Stadt steigerte die Zahl der Logiernächte zwischen 2019 und 2024 um beeindruckende 31,6 Prozent. Was macht Bern so erfolgreich, während andere Städte stagnieren oder mit Akzeptanzproblemen kämpfen? Der Schlüssel liegt in der Integration des Tourismus in das städtische Leben, anstatt das städtische Leben dem Tourismus unterzuordnen.

In Bern ist der Tourismus ein Teil des Ganzen, aber nicht der dominierende Faktor. Die berühmten Lauben der Altstadt beherbergen eine gesunde Mischung aus Boutiquen, Spezialitätengeschäften, Cafés und Bars, die sowohl von Einheimischen als auch von Touristen frequentiert werden. Das Aareschwimmen im Sommer ist ein Kulturgut, das von Bernern gelebt und von Gästen bewundert wird. Die Stadt hat es geschafft, ihre Authentizität und hohe Lebensqualität für ihre Bewohner zu bewahren, und genau das macht sie für qualitätsbewusste Besucher so attraktiv. Es ist kein inszeniertes Spektakel, sondern gelebte Urbanität.

Ein vergleichender Blick auf die Wachstumszahlen verschiedener Schweizer Städte untermauert diese These. Während Städte mit einem sehr hohen Anteil an internationalem Gruppentourismus wie Luzern nur langsam wachsen, zeigen Städte wie Bern eine dynamischere und offenbar resilientere Entwicklung.

Wachstum der Logiernächte in ausgewählten Schweizer Städten (2019-2024)
Stadt Wachstum Logiernächte 2019-2024 Absolute Zunahme
Bern +31,6% +197.527
Zürich +8,8% +244.136
Basel +4,2% k.A.
Luzern +2,7% k.A.
Genf +4,9% k.A.
Lausanne -4,4% k.A.

Das Erfolgsgeheimnis liegt also darin, eine Stadt primär für ihre Bewohner lebenswert zu gestalten. Eine hohe Lebensqualität, eine diverse Wirtschaftsstruktur und eine starke lokale Identität sind die besten Voraussetzungen für einen gesunden und krisenresistenten Tourismus. Gäste kommen, um einen authentischen Ort zu erleben – und gehen, wenn dieser zur Kulisse verkommt.

Die Analyse zeigt klar: Der Weg zu einem zukunftsfähigen Tourismus in der Schweiz führt über eine Abkehr von der reinen Wachstumslogik. Der erste Schritt für jede Destination, jeden Hotelier und jeden Tourismusverantwortlichen muss eine ehrliche Bestandsaufnahme sein. Bewerten Sie Ihre Kapazitätsgrenzen, die Wertschöpfung pro Gast und die Lebensqualität Ihrer Bewohner, um eine Strategie zu entwickeln, die Ihren Ort nicht ausverkauft, sondern ihn für kommende Generationen stärkt und resilienter macht.

Rédigé par Dr. Barbara Wyss, Dr. Barbara Wyss ist Geografin und Raumplanerin mit 17 Jahren Erfahrung in nachhaltiger Regional- und Tourismusentwicklung. Nach ihrer Promotion an der Universität Zürich arbeitete sie für Planungsbüros und Gemeinden an Projekten der Innenentwicklung, Landschaftsplanung und des sanften Tourismus. Sie ist Inhaberin eines Planungsbüros und Expertin für Lebensqualität, Standortentwicklung und nachhaltige Architektur.