
Die Schweizer Wasserkraft ist weit mehr als nur die Umwandlung von Wasser in Strom; sie ist ein hochkomplexes Managementsystem, das die Versorgungssicherheit des Landes garantiert. Ihr Kern liegt in der Fähigkeit, Wasser saisonal zu verschieben – im Sommer zu speichern, wenn die Alpen durch Regen und Schmelze reichlich Wasser liefern, und es im Winter zu nutzen, um die kritische Stromlücke zu schliessen. Diese strategische Steuerung ist das eigentliche Rückgrat der Schweizer Energieversorgung.
Die Schweiz wird oft als das « Wasserschloss Europas » bezeichnet, ein Bild, das riesige Reserven und eine unerschöpfliche Quelle sauberer Energie suggeriert. Mit rund 60 % des nationalen Stroms aus Wasserkraft scheint dieses Bild zu stimmen. Die Vorstellung, dass Wasser einfach einen Berg hinunterfliesst, eine Turbine dreht und Licht in unsere Häuser bringt, ist jedoch eine starke Vereinfachung. Diese Darstellung übersieht die enorme technische und strategische Meisterleistung, die dahintersteckt, um die Energieversorgung eines ganzen Landes im Gleichgewicht zu halten.
Die gängige Diskussion konzentriert sich oft auf den Bau neuer Anlagen oder die offensichtlichen Auswirkungen des Klimawandels. Doch die eigentliche Essenz der Schweizer Wasserkraft liegt nicht im Beton der Staumauern, sondern im intelligenten Management der Wasserressourcen. Es ist ein ständiges Abwägen im Spannungsfeld zwischen dem natürlichen Wasserkreislauf – geprägt von Gletscherschmelze, Niederschlägen und Jahreszeiten – und den künstlichen Anforderungen eines modernen Strommarktes mit seinen Preisschwankungen und dem berüchtigten Winterdefizit. Die wahre Frage ist also nicht nur, *dass* wir Strom aus Wasser produzieren, sondern *wie* wir dieses System steuern, um auch in Zukunft resilient zu bleiben.
Dieser Artikel taucht tief in die Mechanismen dieses dynamischen Systems ein. Wir beleuchten, wie aus Gletscherwasser Strom wird, welche strategischen Entscheidungen getroffen werden, um die Versorgung bis 2050 zu sichern, und welchen ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen wir uns dabei stellen müssen. Es ist eine Reise ins Herz der Schweizer Ingenieurskunst und ihrer zentralen Rolle für unsere Energiezukunft.
Um die Komplexität und die verschiedenen Facetten der Schweizer Wasserkraft zu verstehen, gliedert sich dieser Artikel in mehrere Schlüsselbereiche. Von den ökologischen Aspekten über die technischen Prozesse bis hin zur strategischen Zukunftsplanung werden alle wichtigen Themen beleuchtet.
Inhalt: Die Schweizer Wasserkraft im Detail
- Wasserkraft ist nicht gleich grün: Welche 3 ökologischen Probleme oft verschwiegen werden
- Vom Gletscher zur Steckdose: Wie entsteht Strom in einem Schweizer Speichersee?
- 60% Wasserkraft heute: Welche Energiemix-Strategie sichert die Schweiz bis 2050?
- Wenn die Gletscher fehlen: Warum Stauseen bis 2060 30% weniger Wasser führen könnten
- Sommer speichern, Winter produzieren: Wie managen Kraftwerke das Wasserreservoir übers Jahr?
- Gletscherschmelze stoppen: Welche konkreten Schutzstrategien in den Schweizer Alpen wirken?
- Pendlerströme, Gütertransport, Dienstleistungen: Wie organisiert sich das Mittelland täglich?
- Die Schweizer Alpen: Wie sichern sie Wasser, Energie und Erholung für Millionen Menschen?
Wasserkraft ist nicht gleich grün: Welche 3 ökologischen Probleme oft verschwiegen werden
Obwohl Wasserkraft als erneuerbare Energiequelle gilt, ist ihre Weste nicht makellos weiss. Der massive Eingriff in natürliche Flusssysteme bringt erhebliche ökologische Herausforderungen mit sich, die oft im Schatten der CO2-freien Stromproduktion stehen. Das Gewässerschutzgesetz hat diese Probleme erkannt und verpflichtet Betreiber seit 2011 zu umfassenden Sanierungsmassnahmen. Drei zentrale Problemfelder stehen dabei im Fokus.
Erstens führt der sogenannte Schwall-Sunk-Betrieb zu unnatürlichen und schnellen Wasserstandsschwankungen unterhalb von Kraftwerken. Wenn zur Deckung von Stromspitzen grosse Wassermengen turbiniert und danach wieder gedrosselt werden, trocknen Uferbereiche aus und zerstören den Lebensraum für Fische, Insekten und Pflanzen. Zweitens blockieren Staumauern die Fischwanderung und den natürlichen Geschiebetransport. Fische können ihre Laichgebiete nicht mehr erreichen, und das fehlende Geröll führt zur Eintiefung des Flussbetts und zum Verlust von wichtigen aquatischen Habitaten. Drittens garantieren die gesetzlich vorgeschriebenen Restwassermengen unterhalb von Wasserfassungen zwar ein Minimum an Wasser, doch dieses ist oft nicht ausreichend, um die ökologische Funktionsfähigkeit des Gewässers vollständig aufrechtzuerhalten.
Positive Entwicklungen zeigen jedoch, dass technische Lösungen existieren. Das Sanierungsprojekt an der Hasliaare ist hierfür ein wegweisendes Beispiel.
Fallstudie: Sanierungsprojekt Hasliaare als Pionierarbeit
Als erste Kraftwerksbetreiberin der Schweiz hat die Kraftwerke Oberhasli AG (KWO) zwischen 2014 und 2016 konkrete Schwall-Sunk-Sanierungsmassnahmen umgesetzt. In Innertkirchen wurde ein Zwischenspeicher mit einem Fassungsvermögen von rund 80’000 Kubikmetern gebaut. Dieses Becken fängt die schwallartig abgelassenen Wassermengen auf und gibt sie gedämpft und gleichmässig in die Hasliaare ab. Damit werden die extremen Wasserstandsschwankungen deutlich reduziert und der Lebensraum im Fluss wieder stabilisiert.
Diese Massnahmen zeigen, dass ein Ausgleich zwischen Energienutzung und Ökologie möglich ist, aber er erfordert erhebliche Investitionen und einen politischen Willen zur konsequenten Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben.
Vom Gletscher zur Steckdose: Wie entsteht Strom in einem Schweizer Speichersee?
Der Weg des Wassers vom Alpengletscher bis in die heimische Steckdose ist ein faszinierendes Beispiel für Ingenieurskunst. In einem Speicherkraftwerk wird das Schmelzwasser von Gletschern und Niederschlägen in einem hochgelegenen See gesammelt. Diese potenzielle Energie des gestauten Wassers ist der Rohstoff. Bei Bedarf wird das Wasser durch Druckleitungen ins Tal geleitet, wo es auf die Schaufeln von Turbinen trifft und diese in Rotation versetzt. Die Turbine treibt einen Generator an, der die mechanische Energie in elektrische Energie umwandelt – der Strom ist erzeugt.
Eine besondere Rolle spielen hierbei die Pumpspeicherkraftwerke. Sie sind nicht nur Kraftwerke, sondern auch gigantische Batterien. In Zeiten von Stromüberschuss (und tiefen Preisen), typischerweise nachts oder am Wochenende, pumpen sie Wasser von einem tiefer gelegenen Becken zurück in den hochgelegenen Stausee. Dieses Wasser steht dann wieder zur Verfügung, um zu Spitzenlastzeiten (und hohen Preisen) Strom zu produzieren. Dieser Prozess ist nicht primär auf die reine Stromerzeugung ausgerichtet, sondern auf die wirtschaftliche Optimierung.

Die Technologie in diesen Anlagen ist beeindruckend, doch der Betrieb wird massgeblich von ökonomischen Faktoren bestimmt. Es geht darum, Energie dann zu verkaufen, wenn sie am wertvollsten ist. Das unterstreicht eine zentrale Aussage von Axpo, einem der grössten Energiekonzerne der Schweiz:
Die Rentabilität eines Pumpspeicherkraftwerks ergibt sich vor allem aus den Preisdifferenzen am Strommarkt zwischen verschiedenen Zeitpunkten.
Dieses Prinzip der Arbitrage macht Pumpspeicherkraftwerke zu einem unverzichtbaren Werkzeug für die Netzstabilität und die Integration von volatilen erneuerbaren Energien wie Sonne und Wind.
60% Wasserkraft heute: Welche Energiemix-Strategie sichert die Schweiz bis 2050?
Die Schweizer Stromversorgung steht vor einer gewaltigen Herausforderung: der sogenannten Winterstromlücke. Während die Schweiz im Sommer dank Wasserkraft, Photovoltaik und Kernkraft oft ein Stromexporteur ist, kehrt sich das Bild im Winter um. Die Flüsse führen weniger Wasser, die Sonneneinstrahlung ist geringer, und der Verbrauch steigt. Dies führt dazu, dass die Schweiz im Winter auf Stromimporte angewiesen ist. Eine Analyse von Axpo zeigt, dass auf die Wintermonate rund 55 % des jährlichen Stromverbrauchs fallen, während die Produktion aus Wasserkraft stark zurückgeht.
Um die Versorgungssicherheit bis 2050 auch nach dem schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie zu gewährleisten, setzt die Energiestrategie des Bundes auf einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Ein zentraler Pfeiler dieser Strategie ist die Erhöhung der Winterproduktion aus Wasserkraft. An einem « Runden Tisch » haben Bund, Kantone, Energieunternehmen und Umweltverbände 16 prioritäre Wasserkraftprojekte identifiziert. Diese zielen darauf ab, durch den Bau neuer Speicherseen oder die Erhöhung bestehender Staumauern die Produktionskapazität im Winter um rund 2 Terawattstunden (TWh) zu steigern.
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über einige der wichtigsten Projekte, die im Rahmen dieser Initiative geprüft werden. Diese Projekte repräsentieren das grösste Potenzial zur Steigerung der dringend benötigten Winterenergie.
| Projekt | Zusätzliche Winterproduktion | Status |
|---|---|---|
| Gornerli (Zermatt) | 650 Mio. kWh | Grösstes Potenzial |
| Oberaletsch | 100 Mio. kWh | Natürlicher See durch Gletscherschmelze |
| Emosson Erhöhung | 58-115 Mio. kWh | 5-10m Mauererhöhung möglich |
| Moiry/Turtmann | 120 Mio. kWh | Erhöhung oder Ersatz |
Das Projekt Gornerli bei Zermatt sticht dabei besonders hervor. Es allein könnte einen signifikanten Beitrag zur Schliessung der Winterlücke leisten. Laut einer Analyse kann das Wasserkraftprojekt Gornerli allein ein Drittel der zusätzlich benötigten Wasserkraft im Winter liefern, indem es die Übertragung von 650 Millionen kWh Stromproduktion vom Sommer in den Winter ermöglicht.
Wenn die Gletscher fehlen: Warum Stauseen bis 2060 30% weniger Wasser führen könnten
Die Schweizer Gletscher sind nicht nur eine ikonische Landschaft, sondern auch entscheidende Wasserspeicher. Im Sommer geben sie kontinuierlich Schmelzwasser ab und füllen damit die Stauseen. Doch der Klimawandel lässt diese « ewigen » Eisspeicher in dramatischem Tempo schwinden. Langfristig bedeutet dies eine fundamentale Bedrohung für die Wasserkraft, denn wenn die Gletscher als verlässliche Quelle im Sommer versiegen, wird der Zufluss in die Speicherseen abnehmen. Prognosen deuten darauf hin, dass die sommerlichen Abflüsse bis 2060 um bis zu 30 % zurückgehen könnten, was die Fähigkeit zur Speicherung von Wasser für den Winter direkt beeinträchtigt.
Diese Entwicklung stellt die strategische Reserve der Schweiz vor grosse Herausforderungen. Die Gesamtspeicherkapazität aller Schweizer Stauseen beträgt heute rund 8 Terawattstunden (TWh), was etwa 13 % des jährlichen Strombedarfs des Landes entspricht. Diese Reserve ist das Rückgrat für die Bewältigung der Winterstromlücke. Ein geringerer Zufluss im Sommer bedeutet, dass die Seen zu Beginn des Winters nicht mehr so voll sein werden wie heute. Die Konsequenzen sind weitreichend, wie auch Grande Dixence SA, eine der grössten Kraftwerksbetreiberinnen, betont:
Eine sichere Wasserversorgung wird in Zukunft immer mehr an Bedeutung gewinnen, da das Wasserangebot tendenziell abnimmt durch schwindende Gletscher.
– Grande Dixence SA, Nutzen des Mehrzweckspeichers Gornerli
Paradoxerweise führt die Gletscherschmelze kurzfristig sogar zu mehr Wasser in den Seen, einem Phänomen, das als « Peak Water » bekannt ist. Doch dieser Höhepunkt ist bereits überschritten oder steht kurz bevor. Danach wird die Abnahme unumkehrbar, was eine Anpassung der Speicherstrategien und möglicherweise den Bau neuer Reservoirs erfordert, um die abnehmende natürliche Speicherkapazität der Gletscher zu kompensieren. Die heutige Speicherkapazität von 8 TWh ist ein kritischer Puffer, dessen Füllung in Zukunft unsicherer wird.
Sommer speichern, Winter produzieren: Wie managen Kraftwerke das Wasserreservoir übers Jahr?
Das Herzstück der Schweizer Wasserkraft ist die saisonale Verlagerung – ein strategisches Management, das darauf abzielt, das Überangebot an Wasser im Sommer für den stromarmen Winter zu konservieren. Im Frühling und Sommer, wenn Schneeschmelze und gletschergespeiste Flüsse die Pegel steigen lassen, werden die Speicherseen gezielt gefüllt. Die Kraftwerke produzieren zwar Strom, aber der primäre Fokus liegt darauf, eine maximale Füllhöhe bis zum Herbst zu erreichen. Dieser Prozess ist eine sorgfältig geplante Operation, die meteorologische Prognosen und den erwarteten Energiebedarf berücksichtigt.
Im Winter, wenn der Stromverbrauch am höchsten und die natürliche Wasserzufuhr am geringsten ist, wird das gespeicherte Wasser dann zur Stromerzeugung genutzt. Die Speicherseen agieren als riesige Batterien, die ihre Energie genau dann abgeben, wenn sie am dringendsten benötigt wird. Dieser Zyklus ist entscheidend für die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit der Schweiz. Die sichtbaren Wasserstandsmarkierungen an den Ufern der Stauseen sind stumme Zeugen dieses jährlichen Auf und Ab.

Allerdings ist die saisonale Verlagerung kein rein hydrologischer Prozess. Sie wird stark von Wirtschaftlichkeitskriterien beeinflusst. Wie die Fallstudie der Grande Dixence zeigt, reicht selbst das Volumen des grössten Schweizer Stausees nicht aus, um alles Sommerwasser für den Winter zu speichern. Deshalb wird Wasser auch im Sommerhalbjahr turbiniert, wenn die Strompreise am Markt attraktiv sind. Das Management ist also ein ständiger Optimierungsprozess zwischen der Maximierung der Winterreserve und der Erzielung kurzfristiger Erträge am Strommarkt. Dieser duale Ansatz ist entscheidend für die Rentabilität der Kraftwerke.
Fallstudie: Grande Dixence als Jahresspeicher
Die Anlage von Grande Dixence im Wallis sammelt das Wasser von 35 Gletschern. Obwohl sie als typischer Jahresspeicher konzipiert ist, der Wasser vom Sommer in den Winter verlagert, reicht ihr enormes Speichervolumen nicht aus, um das gesamte verfügbare Sommerwasser zu speichern. Ein Teil des Wassers wird daher auch im Sommerhalbjahr genutzt, um auf wirtschaftliche Opportunitäten am Strommarkt zu reagieren. Dies illustriert perfekt das Spannungsfeld zwischen der strategischen Aufgabe der Versorgungssicherheit und den operativen, marktgetriebenen Entscheidungen.
Gletscherschmelze stoppen: Welche konkreten Schutzstrategien in den Schweizer Alpen wirken?
Die Gletscherschmelze in den Alpen aufzuhalten, ist eine globale Herausforderung, die primär durch die Reduktion von Treibhausgasemissionen angegangen werden kann. Lokale Schutzstrategien, wie das Abdecken von Gletschern mit weissen Planen (z.B. am Rhonegletscher), sind zwar medienwirksam, aber nur eine symptomatische und kleinräumige Behandlung, die den unaufhaltsamen Trend nicht stoppen kann. Die wahre strategische Antwort der Schweiz liegt nicht im Versuch, das Schmelzen zu verhindern, sondern in der Anpassung an die neuen Gegebenheiten und der intelligenten Nutzung der daraus entstehenden Konsequenzen.
Eine der bemerkenswertesten Folgen des Gletscherrückzugs ist die Entstehung neuer, natürlicher Seen in den von Eis befreiten Becken. Anstatt diese Entwicklung nur als Verlust zu betrachten, sieht die Energiestrategie darin eine Chance. Diese neuen Seen können potenziell für die Wasserkraftnutzung erschlossen und in das bestehende Speichersystem integriert werden. Sie bieten die Möglichkeit, das abfliessende Schmelzwasser aufzufangen und so die durch den Gletscherrückgang verlorene natürliche Speicherkapazität teilweise zu kompensieren. Es ist eine Form der systemischen Resilienz, bei der sich das Energiesystem an die veränderte alpine Hydrologie anpasst.
Ein konkretes Beispiel hierfür ist das Gebiet am Oberaletschgletscher im Wallis. Der fortschreitende Rückzug des Gletschers wird dort bis 2030 auf natürliche Weise einen neuen See schaffen. Studien zeigen, dass durch die Gletscherschmelze am Oberaletsch ein natürliches Speichervolumen von rund 25 Mio. m³ entsteht. Dieses Potenzial wurde im Rahmen des « Runden Tisches Wasserkraft » als eines der 16 prioritären Projekte für den Ausbau der Winterstromproduktion identifiziert. Anstatt eines komplett neuen Staudamms in unberührter Natur könnte hier eine bereits vom Gletscher geformte Mulde genutzt werden, was den Eingriff in die Landschaft potenziell reduziert.
Diese Anpassungsstrategie ist somit die pragmatischste und wirkungsvollste Reaktion auf die Gletscherschmelze. Sie fokussiert sich nicht auf einen aussichtslosen Kampf gegen den Klimawandel auf lokaler Ebene, sondern auf die zukunftsorientierte Integration der neuen alpinen Realität in die nationale Energieinfrastruktur.
Pendlerströme, Gütertransport, Dienstleistungen: Wie organisiert sich das Mittelland täglich?
Das pulsierende Leben im Schweizer Mittelland – von den Pendlerzügen der SBB am Morgen über die Logistikzentren bis hin zu den Rechenzentren, die unsere digitale Welt am Laufen halten – ist fundamental von einer unsichtbaren Lebensader abhängig: dem Strom aus den Alpen. Während die Wertschöpfung und der Grossteil der Bevölkerung im Flachland konzentriert sind, befindet sich die « Maschinenhalle » der Nation in den Bergen. Diese geografische Trennung von Produktion und Verbrauch erfordert eine hochentwickelte Infrastruktur und Organisation.
Die Energieversorgung des Mittellandes ist ein täglicher logistischer Kraftakt. Eine Analyse des Bundesamtes für Energie zeigt, dass rund 63 % der Schweizer Wasserkraftproduktion aus den vier Gebirgskantonen Uri, Graubünden, Tessin und Wallis stammt. Dieser Strom wird über das Höchstspannungsnetz von Swissgrid, die « Autobahnen » des Stroms, effizient in die Verbrauchszentren des Mittellandes transportiert. Ohne diese zuverlässige Energiequelle würde der öffentliche Verkehr stillstehen, die Industrie zum Erliegen kommen und die Dienstleistungsgesellschaft kollabieren.
Die Abhängigkeit ist absolut. Jeder Pendler, der in einen SBB-Zug steigt, nutzt indirekt die in den alpinen Stauseen gespeicherte Energie. Jedes gekühlte Produkt im Supermarkt und jeder Klick im Internet hängt von der stabilen Grundversorgung ab, die zu einem grossen Teil durch Lauf- und Speicherkraftwerke in den Alpen sichergestellt wird. Die Organisation des täglichen Lebens im Mittelland ist somit untrennbar mit dem Management der Wasserkraft in den Bergen verbunden.
Ihr Aktionsplan zur Überprüfung der Energieabhängigkeit
- Produktionszentren identifizieren: Machen Sie sich bewusst, dass der Grossteil Ihres Stroms aus den Bergkantonen (GR, VS, TI, UR) stammt, und nicht lokal erzeugt wird.
- Transportwege verstehen: Informieren Sie sich über die Rolle des Höchstspannungsnetzes von Swissgrid als entscheidende Infrastruktur für den Energietransport ins Mittelland.
- Verbraucher analysieren: Listen Sie die grossen Verbraucher auf, die direkt vom Alpenstrom abhängig sind, wie der öffentliche Verkehr (SBB), die Industrie und Rechenzentren.
- Grundversorgung bewerten: Erkennen Sie die Bedeutung der Laufwasserkraftwerke entlang der grossen Flüsse als konstante Quelle für die Grundlastversorgung Ihrer Region.
- Zukünftige Risiken einschätzen: Bewerten Sie die potenziellen Auswirkungen von Engpässen bei der alpinen Stromproduktion (z.B. im Winter) auf Ihr tägliches Leben und Arbeiten.
Diese enge Verknüpfung verdeutlicht, dass die Debatte um den Ausbau der Wasserkraft keine rein alpine Angelegenheit ist, sondern die Lebens- und Wirtschaftsweise des gesamten Landes betrifft.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Schweizer Wasserkraft ist ein dynamisches Managementsystem, das saisonale Wasserüberschüsse für den Winter speichert.
- Der Ausbau der Winterstromproduktion durch 16 priorisierte Projekte ist zentral für die Energiestrategie 2050 und den Atomausstieg.
- Die Gletscherschmelze bedroht langfristig die Wasserzufuhr, schafft aber kurzfristig auch neue Potenziale durch die Entstehung natürlicher Seen.
Die Schweizer Alpen: Wie sichern sie Wasser, Energie und Erholung für Millionen Menschen?
Die Schweizer Alpen sind weit mehr als nur ein Produktionsstandort für Energie. Sie sind ein multifunktionaler Raum, der lebenswichtige Ressourcen wie Wasser und Energie bereitstellt, gleichzeitig aber auch ein unersetzlicher Ort für Erholung, Tourismus und Biodiversität ist. Diese verschiedenen Nutzungsansprüche führen unweigerlich zu Zielkonflikten, die im Zentrum der aktuellen Debatten um den Ausbau der Wasserkraft stehen. Die Sicherung der Energieversorgung für Millionen Menschen muss sorgfältig gegen den Schutz wertvoller Natur- und Kulturlandschaften abgewogen werden.
Der Ausbau der Wasserkraft, wie er zur Schliessung der Winterstromlücke angestrebt wird, bedeutet unweigerlich neue Eingriffe in oft noch unberührte alpine Täler. Projekte wie der geplante Stausee Gornerli bei Zermatt mögen aus energiewirtschaftlicher Sicht notwendig erscheinen, doch sie stossen auf Widerstand von jenen, die um den Verlust einzigartiger Landschaften fürchten. Dieses Spannungsfeld wird in der Aussage eines lokalen Bergführers deutlich:
Wenn das Projekt so umgesetzt wird, dann verlieren wir einerseits eine landschaftliche Perle und wir verlieren Zugänge.
– Benedikt Perren, Bergführer zum Gornerli-Projekt, SRF Rundschau
Dieser Konflikt wird durch die Tatsache verschärft, dass das Potenzial der Schweizer Wasserkraft bereits sehr weit ausgeschöpft ist. Laut WWF sind bereits mehr als 95 Prozent des effektiv nutzbaren Potenzials verbaut. Jeder weitere Ausbau findet also in einem Bereich statt, wo die ökologischen und landschaftlichen Kosten überproportional hoch sein können. Die Alpen können ihre Funktion als Wasser- und Energiespeicher nur dann nachhaltig sichern, wenn auch ihr Wert als Erholungsraum und Hort der Biodiversität respektiert wird. Die Lösung liegt in einem Kompromiss: Effizienzsteigerungen bei bestehenden Anlagen und sorgfältig ausgewählte, umweltverträgliche Neubauprojekte anstelle eines flächendeckenden Ausbaus.
Die Transformation des Energiesystems ist eine nationale Aufgabe, die auf fundierten Kenntnissen und einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruhen muss. Um diese Debatte aktiv mitzugestalten, ist es entscheidend, die Fakten zu kennen und sich eine eigene, informierte Meinung zu bilden.
Häufig gestellte Fragen zur Wasserkraft in der Schweiz
Warum ist Wasserkraft nicht automatisch ‘grün’?
Wasserkraft ist nicht automatisch ‘grün’ oder ‘Ökostrom’. Denn Wasserkraftwerke beeinträchtigen die ökologische Funktionsfähigkeit der betroffenen Gewässer oft sehr stark. Sie verändern Wasserstände, blockieren die Wanderung von Fischen und halten wichtiges Geröll zurück, was den Lebensraum im Fluss nachhaltig schädigt.
Wie viel des Wasserkraftpotenzials ist bereits ausgeschöpft?
Die Nutzung der Wasserkraft ist in der Schweiz im weltweiten Vergleich ausserordentlich hoch. Eine Analyse des WWF zeigt, dass mehr als 95 Prozent des effektiv nutzbaren Potenzials bereits ausgeschöpft sind. Weiteres Ausbaupotenzial ist somit sehr begrenzt und oft mit hohen ökologischen Kosten verbunden.
Welche Massnahmen fordert das Gewässerschutzgesetz?
Das Schweizer Gewässerschutzgesetz verpflichtet seit 2011 die Behörden und Kraftwerkbetreiber, die Beeinträchtigungen durch Wasserkraftwerke zu reduzieren. Zu den zentralen Forderungen gehören die Sicherstellung angemessener Restwassermengen, die Begrenzung von künstlichen Abflussschwankungen (Schwall-Sunk), die Wiederherstellung der Fischwanderung und die Gewährleistung eines natürlichen Geschiebehaushalts.